Wie legitimieren wir die Inhalte und
Ziele unseres Unterrichts?
* Als Unterrichtsbeamte von amtlich gesetzten Vorgaben her? (Vollstreckungsdidaktik)
* Systematisch von den wissenschaftlichen Disziplinen her? (szientistische
Abbilddidaktik)
* Abstrakt von den gesellschaftlichen Bedingungen her? (Bereitstellungs- und
Funktionalisierungsdidaktik)
* Konkret von den Handlungsinteressen und Lernmotiven unserer Schüler her?
Januar 1983
Auf meinem Weg vom Klassenzimmer zum Lehrerzimmer begleitet mich
regelmäßig eine Traube meiner Erstklässler. Die
einen wollen mir etwas sagen, was sie mir immer schon mal sagen
wollten, die anderen wollen Händchen halten, und wieder andere
verlangen von mir Rechenaufgaben, „aber nicht so baby wie
6+4“. Mir ist das manchmal zu viel Anhänglichkeit, und
mein Pullover ist auch schon ziemlich ausgebeult. Da ich glaube. am
ehesten die Rechner loswerden zu können, stelle ich schwierige
Aufgaben, die ihrem Kopf so zu schaffen machen, dass ihr Schritt
sich verlangsamt. Die schwierigste Knacknuss: „Wieviel ist die
Hälfte von fünfhundert?“. Torsten, der immer am
längsten mit mir Schritt halten konnte, wendet seinen Blick
deutlich sichtbar einwärts, bleibt nach ein paar Schritten
stehen, trabt hinter mir her und erreicht mich gerade noch vor dem
Eingang in die Verwaltung: „Zweieinhalbhundert“, sagt
er.
Mittwoch, 12.3.1997
Ich bin kurzfristig zur Vertretung des erkrankten
Mathematiklehrers der Klasse 1a eingeteilt worden. Was können
die Kinder schon, was ist jetzt dran? Auch nach einem Blick ins
Klassenbuch (Spalte „Durchgenommen“) weiß ich es
nicht, denn dort lese ich: „Zahlenturnen“,
„Rechenspiele“, „Plusaufgaben“,
„Wettrechenspiele“, ... Ich gehe nach einem
Begrüßungslied („Guten Morgen, good morning“)
im Sitzkreis behutsam vor: Ich führe das
„Zauberrechnen“ ein. Alle haben ihre Hände auf dem
Rücken; einer sagt „4“ oder eine andere Zahl bis 10,
alle knipsen die genannte Anzahl Finger hoch, und wenn der
„Zauberer“ „simsalabim“ sagt, zeigen alle die
Hände. Dabei werden Zahlzerlegungen und -zusammensetzungen
geübt: Vier Finger sind einer weniger als fünf; man kann
sie aber auch als zweimal 2 Finger (2 Finger der einen Hand und 2
Finger der anderen) zusammensetzen. Sieben Finger sind zwei mehr
als fünf; man kann sie aber auch als 4 Finger der einen Hand
und 3 Finger der anderen zusammensetzen. Acht Finger sind zwei
weniger als zehn; man kann sie aber auch als zweimal 4 Finger (4
Finger der einen Hand und 4 Finger der anderen) zusammensetzen. Das
gelingt, soweit ich es feststellen kann, allen Kindern sehr sicher
und flott; kein Kind scheint mehr auf das primitive Abzählen
angewiesen zu sein; alle haben offenbar Handlungsschemata und
Vorstellungsbilder zur Repräsentation der Zahlen bis 10
verfügbar aufgebaut. Ein paar sind darauf erpicht, eine
Fingerkonstellation zu zeigen, die von denen der anderen Kinder
abweicht und dennoch richtig ist. Dafür vergebe ich
„Sonderpunkte“. Jetzt könnte ich mit den Kindern
noch untersuchen, wieso 5+2 und 4+3 gleich sind; aber ich will
dieses „Spiel“ nicht überziehen. Um zu ermitteln,
welche Differenzierungsmaßnahmen angebracht sind, stelle ich
eine Reihe schwieriger Rechenaufgaben: das Doppelte von 7, von 15,
von 50; die Hälfte von 16, von 50, von 500; 6ù5,
7ù2, 5ù8. Sechs Kinder (von 23) bewältigen alle
diese „Wahnsinnsaufgaben“, wie ich sie nenne. Das wundert
mich, und Nicki, den offenbar Pfiffigsten, schicke ich mit der
Aufgabe, das Doppelte von 2366 (!) zu berechnen, auf den Flur. Nach
zwei Minuten, während die übrigen Kinder begonnen haben,
an ihren Plätzen Aufgaben der Art a+b und deren
Nachbaraufgaben (a1 + b bzw. a + b1) zu bearbeiten, kommt Nicki
herein und verkündet triumphierend:„Viertausendsechshundert!“ „Af-fen-stark!!“
sage ich fassungslos und bewundernd. „Du bist ganz nahe dran;
aber rechne noch einmal. Die Zahl heißt:zweitausenddreihundertsechsundsechzig, 2_3_6_6.“ Nicki zieht
sich auf den Flur zurück und steckt nach einer Minute seinen
Kopf in den Türspalt:„Viertausend-siebenhundert-fünfzig?“ Ich
bestätige ihm, dass er ganz hart an der richtigen Lösung
ist, und nenne ihm die zu verdoppelnde Zahl noch einmal. Als der
Erstklässler nach drei weiteren Minuten mit der Zahl 4722
zurückkommt, klopfe ich ihm anerkennend auf die Schulter, sage
ihm, dass ich 4732 errechnet habe und dass er wirklich stolz auf
seine Rechenkünste sein könne.
Eigentliches pädagogisches
Anliegen ist es, das jeweils vorhandene handlungsleitende Interesse
des Lernenden und seine originale Auseinandersetzung mit Neuem zu
unterstützen, zu vertiefen und zu erweitern. Da die jeweils
vorhandenen handlungsleitenden Interessen mehrerer anwesender
Lernender und ihre originalen Auseinandersetzungen mit Neuem
divergieren können, ist jeder Versuch eines frontalen Lehrens
grundsätzlich problematisch. Muss das U von allen Kindern
gleichzeitig erlernt werden? Dürfen wir Kinder bremsen und
vertrösten, die bereits acht Wochen vor dem im
Stoffverteilungsplan festgelegten Datum unbedingt mit dem U umgehen
wollen (vielleicht weil sie mit einem Klassenkameraden namens Udo
korrespondieren oder den Namen ihrer Straße richtig schreiben
können wollen)? Dürfen wir ein Kind drängen, nun
doch auch das U zu erlernen, obwohl es angibt, dafür keine
Zeit zu haben, weil es doch erst einmal die vertrackten Buchstaben
im eigenen Namen beherrschen lernen will? Wie behalten wir Lehrer
den Überblick, wenn wir den Grundsatz des gleichschrittigen
Lernens verlassen? Wie kann man denn einen solchen Unterricht
planen? Wie kann man da noch Schülerleistungen bewerten? Man
muss das Unterrichten nicht unnötig komplizieren. Also doch
lieber zurück zum überschaubaren Gleichschritt?
9.40
Beginn der 3. Stunde. Friedhelm wartet mit seinen 21
Klassenkameraden der Klasse 3a vor dem Turnhalleneingang. 9.41 Frau X. schließt den Turnhalleneingang auf. Die Kinder gehen in die Umkleideräume. 9.42 Frau X. hat sich umgezogen, geht in die Halle und baut den Barren auf. 9.44 Die ersten Kinder sind mit dem Umziehen fertig und flitzen durch die Halle. Friedhelm hilft Frau X. beim Auslegen der Matten. 9.46 Die letzten Kinder kommen in die Halle. Man spielt ein Laufspiel zum Aufwärmen. 9.49 Versammlung in der Mitte der Halle. Frau X. erklärt, worauf es heute ankommt, und lässt die zu übenden Bewegungsformen von fortgeschrittenen Schülern vormachen. 9.53 Die Schüler stellen sich in vorgeschriebener Entfernung vom Barren auf. Immer ein Kind geht ans Gerät und turnt unter Aufsicht und differenzierter Hilfestellung die vorgeschriebene Übung. Friedhelm steht als fünfter in der Warteschlange. 9.56 Friedhelm turnt knapp 30 Sekunden lang am Barren und stellt sich dann wieder hinten an. 10.05 Friedhelm turnt ein zweites Mal knapp 30 Sek. lang am Barren und stellt sich wieder hinten an. 10.15 Der Barren und die Matten werden eingeräumt. 10.17 Zum Schluss wird ein Fangspiel gespielt. 10.20 Frau X. schickt die Kinder in die Umkleideräume und räumt die Geräte ein. 10.25 Ende der Sportstunde. |
Beginn
der 3. Stunde. Silke geht mit ihren 21 Klassenkameraden der 3b in
den Klassenraum. Herr Y. kommt in die Klasse und lässt die Kinder zur Ruhe kommen. Herr Y. lässt die Deutsch-Hausarbeiten und das Lesebuch herausnehmen. Die Hausarbeiten werden kontrolliert. Herr Y. lässt das Lesebuch auf einer bestimmten Seite aufschlagen, den Inhalt des gestern gemeinsam gelesenen Textes nacherzählen und ein paar Verständnisfragen zum Textinhalt beantworten. Dann soll geübt werden, den Text sinnvermittelnd vorzulesen. Herr Y. ruft die Kinder nacheinander zum Vorlesen auf. Silke ist als vierte dran. Sie liest bis 9.57 Uhr einen Textabschnitt vor. Herr Y. lässt die Lesebücher schließen und erklärt die Hausaufgabe. Ende der Deutschstunde. |