Die Frage nach der Orientierung des Lernens hat nicht nur eine akademische Bedeutung. Wie entscheidend sich die Antworten auf diese Frage in der Unterrichtskonzeption und in den Wirkungen des Unterrichts niederschlagen, lässt sich besonders gut an dem didaktischen Komplex festmachen, der mit dem Erwerb der Schriftsprache verbunden ist.
In der zweiten Hälfte des ersten Schuljahres schreiben die Kolleginnen A. und B., Klassenlehrerinnen der Klassen 1a an zwei verschiedenen Schulen, an die Tafel:
Ist die Klasse 1a doof?
Sie setzen sich an ihren Platz und schauen mit hochgezogenen Augenbrauen abwechselnd zu den Kindern und an die Tafel.
Reaktion der Klasse von Frau A.:
S1: "Sollen wir das jetzt abschreiben?"
S2: "Ich hab alles gelesen. Darf ich vorlesen?"
S3: "Du hast bei 'die' den i-Punkt zu hoch gesetzt."
S4: "Ich hab zu Hause das Buckel-s geübt. Willst du's mal sehen?"
S5: "Wann guckst du denn die Hausaufgaben nach?"
S6: "Kriegen wir heute viel auf?"
Reaktion der Klasse von Frau B.:
Schüler protestieren laut, einige sind entrüstet, andere spielen Entrüstung, einige laufen zur Tafel, einer streicht das Wort "doof" mehrfach und mit verschiedener Farbkreide durch, einer schreibt darüber "Lip!!!", einer schreibt mehrere Male in riesiger Schrift "NEIN an, einer macht aus "1a" "1b", einer schreibt an: "dubest selba DoF!!!!!!!"; drei Kinder sehen dem ganzen Geschehen mit Interesse, aber noch ohne Orientierung zu und lassen sich von Nachbarn über die Ungeheuerlichkeit des ursprünglichen und die Berechtigung des jetzigen (etwas aus den Fugen geratenen) Tafeltextes aufklären.
Unterstellen wir einmal, beide Klassen seien im Erlernen des Lesens als einer Kulturtechnik (Kulturtechnik) gleich weit vorangekommen. Während aber die eine Klasse Schriftsprache von vornherein als Mittel des unmittelbaren, durch aktuell erlebte Lebenssituationen veranlassten Kommunizierens erlernte (Kulturtechnik), scheint die andere Klasse in ihrem Verhältnis zum Lesen auf das Formal-Psychotechnische des Lesevorgangs fixiert (worden) zu sein. Die Hierarchisierung der Lerninhalte - vom Leichten zum Schwierigen; vom Einfachen zum Komplexen - darf nicht dazu führen, dass die Lerninhalte ohne ihren Zusammenhang mit der Welt der Schrift erfahren werden.
"Wo die Kenntnis der Buchstaben, ihre Synthese und die Strukturierung der geschriebenen Wörter losgelöst werden von der basalen Funktion des Schreibens und des Lesens als Ausdrucksform für Gedachtes, ist Kulturtechnik sogar ein Hindernis für die Teilhabe an Schriftkultur." (Mechthild Dehn auf dem Frankfurter Grundschulkongress 1989)
Ebenso wie Hören mehr ist als ein physikalisch und physiologisch beschreibbarer Vorgang, ist Lesen mehr als eine Kulturtechnik. Nicht als bloße Kulturtechnik, sondern als sich anleiten lassendes Denken muss Lesen ein zentraler Lerngegenstand der Grundschule sein. Das Lesenlernen soll das Kind von Anfang an in die Lage setzen, (auf zunächst elementarer Ebene) an der Schriftkultur teilzuhaben; es ist Bestandteil der Denkentwicklung der Kinder. "Schriftkultur" heißt nicht nur Buchkultur! Diese wohl unbestrittene Feststellung führt immer mehr dazu, dass Anfangsunterricht ohne "Fibeltrott" arrangiert wird.
Geben wir dem Wort "Kulturtechnik" einen neuen Sinn (oder seinen ursprünglichen Sinn zurück), indem wir das bestimmende Wort "Kultur" ernst nehmen! Die eigenste Funktion der Kultur als tragender Grund von Bildung besteht nicht nur darin, realem Leben Gestalt zu geben, sondern trägt diesem gegenüber das Ferment des Wandels, Elemente der Kritik und des Regulierens in sich. Kulturmündigkeit ist Mündigkeit in einer Kultur, nicht nur für eine Kultur. Der gegenwärtigen Wirklichkeit dürften folgende Zielsetzungen adäquat sein [1]:
- wirksame Kommunikation (Orientierung in der Welt);
- Bereitschaft zur Veränderung der Welt und seiner selbst
(neuen Problemen mit Vertrauen auf neue Lösungen
begegnen);
- Fähigkeit, Ziele zu bestimmen und nicht nur Mittel zu
wählen (produktives Verhältnis von Phantasie und
Wirklichkeit);
- Autonomie (rationale und kritische Einstellung zu sozialen Formen
und Symbolen).
Derartige pädagogische Ziele erfordern eine pädagogische Praxis, die die Gegenstände von der Ebene des bloß Tatsächlichen [Opportunen] auf die Ebene des persönlich Bedeutsamen [Relevanten] hebt. Bedeutsamkeit aber ist dem Lernenden nicht in Form von Behauptungen mitzuteilen, sondern ihm mittels geeigneter methodischer Arrangements unmittelbar erfahrbar zu machen.
Betonen wir in Sachen Kulturtechnik nicht mehr einseitig die Aspekte Verfahrenstradition (Aufgabe der Lehrenden) und Verfahrensrezeption und -anwendung (Aufgabe der Lernenden)! Setzen wir bei dem Interesse der Menschen an, sich mittels geeigneter Verfahren in den Stand zu setzen, sich in der Welt Orientierung und Vergnügen zu verschaffen, sich mitzuteilen und Mitteilungen zu empfangen, das eigene Denken und Gedächtnis zu entlasten oder zu unterstützen, durch Wünsche, Kritik und Entwürfe aktiv auf Situationen zu reagieren und Verhältnisse zu ändern, Beziehungen zu Mitmenschen zu knüpfen, zu erhalten und zu modifizieren, Phantasie als Schöpferin und Trägerin durchlebbarer, erprobbarer Alternativwelten walten zu lassen!
Den Anstoß zum Lesen (und zum Lesenlernen) liefert das sachlich motivierte Inter-esse (der Antrieb zur Teilhabe) an sonst nicht oder weniger zugänglichen Erlebnis-, Verständigungs-, Erkenntnismöglichkeiten. Daher soll die Leselehrmethode von Erlebnis-, Verständigungs-, Erkenntnisinhalten und -situationen ausgehen.[2]
Beispiele für Zugänge:
a) Die Lerngruppe (Namen, Wohnstraßen, Freunde, Geschwister, Eltern, Landkarte der Gruppe, Lieblingstätigkeiten);
b) Erlebnisse der Lerngruppe oder einzelner (Tagebuch);
c) Geschichten, fortlaufend erzählt, von den Kindern ausgesponnen, fortgesetzt und bildlich/schriftlich festgehalten (à Eigenproduktion eines Geschichtenbuches);
d) Sachthemen;
e) Lesehefte (kopieren, vergrößert kopieren);
f) Schrift in der Umwelt der Kinder (Straßenschilder, Ortsschilder, Geschäftsnamen, Werbung an der Straße, im Fernsehen, in Zeitschriften, Bilderbücher mit Text; Schulweg-Schrift-Rallye).
[1] Robinsohn, Saul Benjamin: Bildungsreform als Revision des Curriculum. Und: Ein Strukturkonzept für Curriculumentwicklung. Luchterhand, Neuwied.
[2]
Literaturempfehlung:
Altenburg, Erika : Wege zum selbständigen Lesen. 10 Methoden
der Texterschließung. Cornelsen-Scriptor, Frankfurt am Main,
1991.
Balhorn, Heiko / Brügelmann, Hans (Hg.): Jeder spricht anders.
Normen und Vielfalt in Sprache und Schrift. Faude, Konstanz,
1989.
Balhorn, Heiko / Brügelmann, Hans (Hg.): Welten der Schrift in
der Erfahrung der Kinder. Faude, Konstanz, 1987.
Brügelmann, Hans (Hg.): ABC und Schriftsprache: Rätsel
für Kinder, Lehrer und Forscher. Faude, Konstanz, 1986.
Brügelmann, Hans / Balhorn, Heiko (Hg.): Das Gehirn, sein
Alfabet und andere Geschichten. Konstanz 1990.
Brügelmann, Hans : Kinder auf dem Weg zur Schrift. Eine Fibel
für Lehrer und Laien. Faude, Konstanz, 1983.
Brügelmann, Hans : Lesen- und Schreibenlernen als
Denkentwicklung - Voraussetzungen eines erfolgreichen
Schrifterwerbs. In: Zeitschrift für Pädagogik. Heft 30
(1984).
Dehn, W.: Ideenmagazin zum Schreiben. In: Der Deutschunterricht 41
(1988), Heft 3.
Die Grundschulzeitschrift, Heft 57, September 1992 (6. Jg.).
(Heftthema: Sprache und Schrift. Entdecken - Üben -
Gestalten.)
Freinet, C.: Vom Schreiben- und Lesenlernen. Die
ônatürlicheõ Methode. Eine gelebte Erfahrung.
In:Boehncke, H. / Humburg, J. (Hg.): Schreiben kann jeder. Reinbek
1980.