Grundschulpädagogische Fragen

Die Weinbergschnecke auf der Rasierklingenschneide

Fachwissenschaftliche Attitüde und pädagogische Zielsetzungen müssen im Lehrerhirn manchen Strauß miteinander fechten. Was soll da Priorität haben? Wir leben in einem wissenschaftlich geprägten Zeitalter, und Unterricht soll wissenschaftsorientiert sein. Das ist ausgemachte sachunterrichtsdidaktische Norm. Außerdem verletzt sich die Weinbergschnecke ja gar nicht, wenn man sie über eine noch so scharfe Rasierklingenschneide kriechen lässt; man kann sogar Druck auf ihr Haus ausüben, und es passiert nichts Schlimmes. Das weiß die sachkundige Lehrerin; und sie will, dass auch ihre Schüler darüber erstaunt und erfreut sind. Aber den Kindern den Sachverhalt nur mitteilen - das widerspräche dem erfahrungsorientierten Ansatz ihres Sachunterrichts. Also wird der Tierversuch arrangiert und gestartet.

Unsere Lehrerin fragt nicht „Was meint ihr, wird die Schnecke das überleben?“, sondern sie informiert die Kinder vorher, dass der Versuch ganz und gar ungefährlich für das Tier ist. Lehnen sich die Kinder deshalb beruhigt zurück und verfolgen das Experiment in aller Gelassenheit? Nein, sie bleiben trotz aller Vorab-Aufklärung in der Spannung, die in diesem Experiment per se angelegt ist. Der Kitzel des Risikos, das Schaurig-Schöne des Gefährlich-Sensationellen weht sie an. Einer drückt tatsächlich auf das Schneckenhaus, als die Lage am brenzligsten scheint - nichts passiert! Auch das Aufatmen wird ausgekostet: Unserer Schnecke ist nichts passiert! Sie bekommt zur Belohnung für ihre Mitwirkung und zur Entschädigung für das Bangen der Zuschauer ein besonders saftiges Salatblatt. Und dann will man wissen, wieso nichts passiert ist.

Eine Sternstunde des Sachunterrichts? Wir haben über die Schnecke wie über einen technischen Apparat verfügt, um zu klären, ob sie unter bestimmten Bedingungen in definierter Weise funktioniert oder nicht. Die Konsequenz dieses biotechnischen Unterrichts ist die Übertragung der Versuchsidee: Funktionieren Regenwurm und Raupe auch so wie die Weinbergschnecke? Wieviel halten Tiere aus? Wie lange kann man einen Hund am Halsband aufhängen, ohne dass er erstickt? Wieviel halten Menschen aus? Wie lange kann man einen isolierten Mitschüler schikanieren und erpressen, ohne dass man mit der Intervention von Erwachsenen rechnen muss?




Handlung als Kolonialwaren-Handlung?

Wenn Handlung in anthropologischer Sicht ein Wechselspiel von absichtlichen, zweckgerichteten, von Interessen ausgehenden und von Denkprozessen gesteuerten Aktivitäten ist, mit denen das Individuum seine Welt seinen Vorstellungen gemäß verändern will oder seine Vorstellungen den in der Welt vorgefundenen Handlungserfordernissen und -bedingungen anzupassen versucht1 - was ist dann von einer Lehrprobe zu halten, in der eine zweite Klasse im Fach Mathematik mit dem Thema „Darstellung einer Relation durch das Pfeildiagramm“ befasst wurde?

Die Kinder beantworten zunächst die Frage der Lehrerin nach dem Größten in der Klasse. Die Antworten fallen unterschiedlich aus; ein unmittelbarer Größenvergleich stellt den Sachverhalt klar. Die vor der Tafel versammelten Größten bleiben als konkrete Menge dort stehen, damit diese Menge mit der Relation „größer als“ durchstrukturiert werden kann. Zur Protokollierung der Aussagen „X ist größer als Y“ werden rote Papppfeile so auf den Boden gelegt, dass der Pfeilanfang zu Füßen des Schülers X liegt und die Pfeilspitze auf die Füße des Schülers Y zeigt. Anschließend wird die Situation an der Tafel skizziert: Die Lehrerin zeichnet Strichmännchen, Schüler dürfen die Pfeile einzeichnen. Schließlich erhalten die Schüler ein Arbeitsblatt, das ähnlich zu bearbeiten ist wie die Tafelskizze. Ein Vergleich der Arbeitsergebnisse steht am Schluss der Unterrichtsstunde.



Für die Lehrerin war die Frage nach dem Sinn des Pfeilelegens und Pfeilezeichnens nicht relevant. Relationsdiagramme kommen im Fach Mathematik vor und sind laut Rahmenrichtlinien im zweiten Schuljahr dran. Außerdem war es gelungen, die Kinder genau das tun und sagen zu lassen, was in der (fachlich korrekten) Planung vorgesehen war. Wie aber hätte die Lehrerin reagiert, wenn sich der eine oder andere Zweitklässler (zu Recht!) dem verschrobenen Sinn dieses Unterrichts verweigert hätte?2


Wissenschaftsorientierung des Unterrichts - ?

Waren die Menschen früher dümmer? Sie nahmen an, die Erde sei tellerförmig. Es weiß doch heute jedes Kind, dass die Erde eher die Gestalt einer Pampelmuse hat! - Wieso und wie sollen die Zweitklässler die Vorteile zylindrisch-hohler Stützen hinsichtlich der Zug- und Druckfestigkeit entdecken, da sie doch in der Technikgeschichte bereits entdeckt worden sind? - Wozu sollen die Viertklässler ein Verfahren erarbeiten, mit dem man mehrstellige Zahlen dividieren kann? Das Verfahren liegt doch schon fest!

Der eigentlich bildende Wert wissenschaftlicher Erkenntnisse liegt in der Art, wie sie gewonnen werden. Sie als bloße Lerninhalte aufzufassen und von dem Erkenntnisprozess abzuschneiden, würde bedeuten, sie zum toten oder allenfalls nutzbringenden Stoff zu entwerten, der durch Gedächtnisleistung, nicht durch Leistung neugierigen, ausdauernden, produktiven, kritischen Denkens und Arbeitsverhaltens beherrscht würde. Dies aber ist unter zwei Aspekten bedenklich:

a) Das positive Wissen veraltet schneller als die Methoden seines Erwerbs.1

b) "Es gehört zu den Gebrechen des modernen technischen Zeitalters, dass das geistige Leben mit technischen Mitteln sich in die Massen ausbreiten will, ohne dass die einzelnen wirklich an den geistigen Akten beteiligt werden, auf denen es beruht." (W. Flitner)2

Sinn allen Lernens ist es, sich für kompetentes Handeln in der Welt auszustatten. Wissenschaft ist selbst nur ein Bestandteil der Welt, beschreibt sie, erklärt und bewertet sie oder baut sie gedanklich aus. Und da sie dies auf eine völlig unsinnliche, formale, kognitivistische Weise tun muss, kann Lernen für das Leben in der Welt nicht gleichbedeutend sein mit dem Erlernen wissenschaftlicher Befunde oder Methoden. Dies kann allenfalls sinnvoll sein und geleistet werden, wenn der grundlegende Bildungsprozess erfolgreich abgeschlossen ist.

[_] Das Handeln in der Welt ist nicht nur Bildungszweck, sondern muss auch das vorrangige und überwiegende Bildungsmittel sein. In der Welt konstruktiv tätig werden zu können, setzt voraus, sie rekonstruiert zu haben und in sie habituell eingewurzelt zu sein. Diese Wirklichkeitsrekonstruktion und habituelle Einwurzelung geht mit der Herausbildung von kognitiven Strukturen und von Bewertungsmustern (als aktive Veränderung und Ausdifferenzierung vorhandener subjektiver Konzepte) einher und kann nicht durch Fremdtheorien vorbestimmt sein oder werden. Einer unmittelbaren Determinierung des Handelns durch ein theoretisches Modell steht immer die relativ eigenständige subjektive Dimension entgegen. Die Rezeption von Fremdwissen ist keine hinreichende Grundlage für eigenständiges Wirken; sie kann das reflektierte Erfahren der eigenen (jeweils vorläufigen) Rolle, der Abhängigkeiten, des Beeinflusstwerdens und der Möglichkeiten (auch der Grenzen) eigenen Wirkens und Bewirkens allenfalls erhellen, nicht aber ersetzen.1

"Wenn ein Mensch etwas herausfinden möchte und ich ihm das Gesuchte in die Hand gebe, erkläre, um was es sich handelt, und die Wiederholung fordere, dann habe ich diesem Menschen allen Wind aus den Segeln genommen."2

Nicht die Definition, die mir jemand gibt, erzeugt bei mir einen Begriff. Einen Begriff von etwas muss ich mir selber "machen". Bei diesem "Machen" bin ich aber nicht frei von dem Kontext, den geistig zu durchdringen mein Interesse ist und der mich deshalb zur Begriffsbildung veranlasst.3

"Zwischen den Tätigkeiten eines Mathematikers und denen eines Schülers" besteht ein "prinzipieller Unterschied"4. Während der Mathematiker Definitionen als frei gewählte sprachliche Vereinbarungen setzt, denen kein Wahrheitswert zuzuordnen ist und zu denen es nicht einmal eine Entsprechung im Anschauungsraum geben muss, geht "bei einem natürlich ablaufenden Erkenntnisprozess [...] der Prozess der Begriffsbildung und des Begriffserwerbs dem Akt der Definition, also der Begriffsbestimmung, voraus. Leider wird diese Reihenfolge beim schulischen Lernen oft nicht beachtet oder sogar umgekehrt."5

An Wissenschaftlichkeit orientiertes Denken erfordert persönliche Askese: Das Individuum muss darauf verzichten, Probleme durch subjektives Meinen zu lösen; es muss seinen Intellekt allgemeinen Regeln unterordnen; es muss ausdauern, auch bei Rückschlägen; es muss zu Intelligenzleistungen, vor allem der Abstraktion und des konstruktiven Zweifels als eines Denkprinzips fähig sein. Wenn Schüler zu einem derartigen Denken befähigt werden sollen, kann dies nur durch selbsttätige Auseinandersetzung mit erfahrungsnahen, paradigmatischen Themen gelingen. Ihnen muss viel musse für Rück- und Umwege gelassen werden; eingeschlagene Fehlwege dürfen nicht ohne Einsicht des Schülers verlassen werden, und der rationalen Anspannung muss sich eine ergiebige Entspannungsphase anschließen.


Was am Unterricht war verschlossen, wenn er geöffnet wird?

Geöffnet werden kann nur, was verschlossen ist. Was ist verschlossener oder geschlossener Unterricht? Wie wirkt er sich aus? Was ist seine Stärke? Worin bleibt er den Lernenden, den Lehrenden und der Gesellschaft etwas schuldig?

Wir alle kennen die Musterlektion zum Thema „Magnetismus“ im Sachunterricht des 2. Schuljahres. Curriculare Fertigware tradiert sich hartnäckig überallhin und allezeit, wo und wann Lehrer sich nur bescheidenes didaktisches Nachdenken zumuten und ihren Schülern nur beschränkte geistige Aktivität zutrauen.

Der einschlägige CVK-Experimentierkasten steht bereit, aber die Lehrerin will die Kinder zunächst mit einem „motivierenden“ „Einstieg“ „einstimmen“. Die Klasse wird im Dreiviertelkreis um das kommerzielle „Angelspiel“ versammelt. Nacheinander halten die Kinder eine „Angel“ in ein „Aquarium“, darin macht es „klick“, und schwuppdiwupp kann man einen Pappfisch herausangeln. Wie ist das möglich? Und jetzt wissen auch die letzten, dass es heute um Magnete geht. Aber ihr Mitteilungsdrang („Ich habe zu Hause ganz viele Magnete / einen ganz großen Magneten“, „Wir haben in der Küche eine Magnet-Pinnwand“, „Ich habe mal einen alten Lautsprecher auseinandergebaut; da blieb mein Schraubenzieher dran kleben; da steckte noch Strom drin“, „Ich habe in meiner Modell-Eisenbahn einen Kranwagen; da ist ein Seil mit einem Magneten dran; mit dem kann ich Schienen hochziehen und wegfahren“, ...) passt der Lehrerin nur insoweit, als ihr die Kinder damit zeigen, dass sie in den Sachbereich „Magnete“ „eingestimmt“ sind. Dem Mitgeteilten selbst verleiht sie keine didaktische Bedeutung, weder ad hoc noch später; denn sie hat vor, die Kinder mittels CVK-Kasten-Methodik zu einer von den Zufälligkeiten der Vorerfahrungen freien und von den Divergenzen der individuellen Handlungsinteressen und Lernmotive nicht belasteten gemeinsamen Wissensgrundlage zu führen. Zunächst kann sie an der Tafel festhalten (und sie meint, dies aus Gründen der Methodenorientierung des Sachunterrichts tun zu sollen): Wir wissen: Magnete können Sachen anziehen. Die Partnerschaften, in die die Klasse eingeteilt ist, erhalten die inhaltsgleichen Materialbeutelchen mit Büroklammern, Nägeln, Korken, Baumwollfäden, Glaskugeln usw., aber noch keine Magnete. Zunächst müssen die Kinder sagen, was jetzt die Frage sein könnte (Wir fragen: Welche Sachen zieht ein Magnet an?), und vermuten (Wir vermuten), welche Gegenstände, deren Namen in eine vorbereitete Tabelle an der Tafel eingetragen sind, von einem Magneten angezogen werden und welche nicht. Jetzt werden die Magnete endlich ausgeteilt, nachdem die Lehrerin die Kinder angewiesen hat, in der Tabelle auf dem mitgelieferten Arbeitsblatt mit Kreuzen festzuhalten, ob sie im Versuch eine Wirkung bzw. Nichtwirkung des Magneten auf die einzelnen Gegenstände beobachten. Den Beginn dieser Arbeit muss die Lehrerin aber wiederholt anmahnen (einmal sogar unter Androhung, vier Kindern die beiden Magnete wieder abzunehmen), weil es die Kinder viel spannender finden, die unterschiedliche Wechselwirkung zwischen zwei Magneten (auch durch Hindernisse hindurch!) zu erforschen, Spitzer in geheimnisvolle Bewegung zu versetzen und in einen Wettstreit zu treten, wer an seinem Magneten die längste Büroklammerkette baumeln lassen kann. Diese Phänomene waren der Lehrerin zu komplex, als dass sie ihnen jetzt schon, in der ersten Stunde der Unterrichtsreihe, nachgehen lassen wollte („Vom Einfachen zum Komplexen!“, „Vom Leichten zum Schwierigen!“, behutsame Einführung in die Sachlogik mit Hilfe des bombensicheren elementenhaft-synthetischen Verfahrens). So führen denn die Kinder ihre Versuchsreihe durch und setzen Kreuzchen in die Arbeitsblatt-Tabelle. Anschließend werden die „Arbeitsergebnisse“ veröffentlicht (Wir haben festgestellt) und mit den Vermutungen (siehe die Tabelle an der Tafel) verglichen. Die Kinder, die vorhin ja schon erfahren haben, dass ihr wirkliches Handlungsinteresse und ihre tatsächlichen Fragen diesem Unterricht nicht angemessen sind, sind als brave Schüler bis auf die in diesem Unterrichtskorsett möglichen und geforderten Minimalbewegungen erstarrt, so dass die Lehrerin ohne weitere Schwierigkeiten zu dem geplanten Unterrichtsergebnis kommen kann: Magnete ziehen Gegenstände aus Eisen an, das die Kinder noch rechtzeitig vor Stundenschluss von der Tafel ins Heft übernehmen können. Hausaufgabe: Im CVK-Arbeitsbuch die Seite über Magnete so gut anschauen, dass man beim nächsten Mal gut über sie (die Seite? die Magnete?) Bescheid weiß.

Die Leitideen des geschlossenen Unterrichts sind die Garantierung, Rationalisierung und Ökonomisierung voraussagbarer Lernprozesse. Die Optimierung solcher Prozesse stellt sich als Aufgabe und lehrtechnisches Problem des Lehrenden dar. Angenommen, ein solcher Unterricht wäre nach übereinstimmender Beurteilung aller Beteiligten und aller möglichen Beobachter hundertprozentig optimiert Ö: Wäre damit schon festgestellt, wie vernünftig ein solcher Unterricht ist und ob er überhaupt vernünftig ist?