Michael beherrscht am Anfang des 3. Schuljahres die Sätze des kleinen Einsmaleins. Sagt man "drei mal sieben" oder "zehn mal sieben", reagiert er prompt mit "einundzwanzig" bzw. "siebzig".
Die Aufgabe, 13 mit 7 zu multiplizieren, weist er ohne Zögern zurück: "So weit habe ich mit meiner Mutter noch nicht geübt."
Er soll im Rechenheft verschiedene rechteckige Felder mit je 21 Kästchen zeichnen. Außer einem Feld mit 21 untereinander liegenden Kästchen und einem einreihigen Feld mit 21 Kästchen fällt ihm keine weitere Lösung ein.
Michael hat ein Wissen erworben, das er zwar mit bemerkenswerter Fertigkeit reproduzieren, aber nicht für weiterführende geistige Aktivitäten verwenden und nicht in Handlungssituationen anwenden kann. Sein Wissen ist statisch, nicht operational; es ist verwendbar in Abfragesituationen, aber nicht in Lebenssituationen. Sein Wissen ist das Wissen von Papageien, die man auch auf die Einsmaleinssätze konditionieren kann. Ihm fehlt die sinnvolle Grundlage jedes abstrakten Wissens und der grundlegende Sinn jedes abstrakten Wissens: das Handlungswissen.
Was sagt Michaels Lehrerin dazu, wie bewertet sie seine Leistungen? Gibt sie sich mit Michaels memorialer Fertigkeit zufrieden; sieht sie von seiner operationalen Unfähigkeit ab?
Nicht nur auf der Seite der Lernenden gibt es Handlungsblindheit.
Einführung von Zweitklässlern in die Systematik der Textgattungen. Der Lehrer trägt den Kindern vor, dass es Texte gibt, die den Leser unterhalten sollen, und solche, die informativen Charakter haben. Er notiert an der Tafel:
Die Kinder müssen das "Tafelbild" in ihr Heft übernehmen und sollen zu Hause Beispiele für die beiden Textgattungen suchen (lassen??) und ihre Titel aufschreiben. Die nächste Deutschstunde beginnt mit dem Verlesen einiger Hausarbeiten und mit einer Abfrage der Bezeichnungen für die Textgattungen. Als besondere Textgattung wird noch die Lyrik nachgereicht und vokabelmäßig in die Köpfe der Zweitklässler gepflanzt. Ob diese Saat wohl aufgeht?
Wir befinden uns im Wohnzimmer der Familie Redlich. Vater Redlich sitzt gemütlich in seinem Fernsehsessel und liest im milden Schein der Leselampe seine Bildzeitung. Mutter Redlich poliert ihren geliebten Gummibaum. Ihr Sohn Oliver sitzt über seinen Schulbüchern und macht seine Hausaufgaben.
Sohn: Papa!
Vater (ins Lesen vertieft): Ja?
Sohn: Ich hab' hier 'ne Rechenaufgabe.
Vater (immer noch ins Lesen vertieft): Meinetwegen. Aber komm nicht so spät nach Hause.
Sohn: Ich hab' hier 'ne Rechenaufgabe, die krieg' ich nicht raus.
Vater (jetzt bei der Sache): Was? Die kriegst du nicht raus? Zeig mal her.
Sohn: Hier. 28 durch 7.
Vater: 28 durch 7? Und das kriegst du nicht raus? Elke! Dein Sohn kriegt 28 durch 7 nicht raus!
Mutter: Dann hilf ihm doch.
Sohn: Was heißt denn 28 durch 7, Papa? Wofür brauch' ich das denn?
Vater: Wofür? Wofür? Alle naslang brauchst du das. Stell dir vor, du hast 28 Äpfel, ihr seid sieben Buben und wollt die Äpfel untereinander aufteilen.
Sohn: Wir sind aber immer nur vier. Der Fips, der Kurt, sein Bruder und ich.
Vater: Dann nehmt ihr halt noch den Erwin, den Gerd und den Henner dazu, dann seid ihr...
Sohn: Der Henner ist blöd! Der kriegt keinen Apfel.
Vater: Na, dann musst du eben sehen, wen du sonst noch auf der Straße triffst.
Mutter: Der Junge geht mir nicht auf die Straße! Der macht jetzt seine Schularbeiten!
Vater: Jetzt misch dich nicht auch noch ein. Oder weißt du eine bessere Erklärung, wie 28 durch 7 geht?
Mutter: Jedenfalls geht der Junge nicht auf die Straße.
Vater: Gut. Er bleibt hier. Wir haben also keine sieben Buben, sondern nur 28 Äpfel, und die teilen wir jetzt durch sieben Birnen, das macht..., das macht...
Mutter: Aber Hermann! Das geht doch gar nicht!
Vater: Ja ja, das war falsch... Nun macht doch nicht alles so kompliziert! Ihr seid also keine sieben Birnen... äh... Buben, - ihr seid sieben... sieben... - na! ... sieben Zwerge! Jawohl! Ihr seid sieben Zwerge!
Sohn: Und?
Vater: Und die haben zusammen eine 28-Zimmer-Wohnung,
Mutter: Ach Gott, Hermann, es gibt doch in der ganzen Stadt keine 28-Zimmer-Wohnung!
Vater: Natürlich nicht! Es gibt ja auch in der ganzen Stadt keine Zwerge, verdammt noch mal! Also unterbrich mich jetzt nicht! Wie oft gehen 28 Zwerge - nein ... äh...
Mutter: Ha! Und was machen deine Zwerge in ihrer 28-Zimmer-Wohnung, wenn ich fragen darf?
Vater: Wohnen! Was denn sonst?! 28 Zwerge durch sieben Zimmer!
Mutter: So, so! Die gehn da durch. Hintereinander, wie?
Vater: Äh...
Sohn: Und was macht das Schneewittchen, Papa?
Vater: Äh... Schneewittchen? Die... die soll bleiben, wo sie ist, die dumme Nuss!
Mutter: Aber Hermann!
Vater: Na gut. Nehmen wir halt was anderes. Die sieben Geißlein zum Beispiel. Die mit den Wölfen. Also: Sieben Geißlein durch 28 Wölfe. Wieviel Gölflein frisst jedes Weiß...
Mutter: Ach, Hermann!
Vater: Ach Hermann, ach Hermann!! Geißlein! Wölflein! Lasst mich doch endlich mit dem Mist zufrieden!
Sohn: Was ist denn nun 28 durch 7?!
Vater: Hm. Du hast recht, mein Junge, man muss die Nerven behalten. Also, wer frisst denn da immer die Wölfe? Elke!
Mutter: Was weiß denn ich? Rotkäppchen vielleicht?
Vater: Na gut. Sieben Rotkäppchen fressen 28 Geißlein... Oder anders: die Wälder. Die Wälder! 28 Rotkäppchen rennen durch sieben Wälder...
Mutter: ...und 28 Großmütter fressen sieben Wölfe..
Vater: ...und sieben Geißlein kaufen sich 28 Wackersteine!
Sohn: Schreit doch nicht so! Das geht mir auf den Wecker!
Vater: Wecker! Sehr gut! Du hast 28 Wecker, und du musst um sieben aufstehen. Wieviel...
Mutter: Seit wann muss der Junge denn um sieben aufstehen? Der muss um halb sieben raus, so wie der immer rumtrödelt.
Vater: Gut! Gut.
Mutter: Und wenn du dir Beispiele ausdenkst, dann denk dir welche aus, unter denen sich der Junge auch etwas vorstellen kann.
Vater: Ist recht! Ist recht. Ö 28 durch 7. Das muss man tei-len! Verstehst du? Tei-len, wie eine Tor-te. Die teilst du in der Mitte durch, und dann ist sie ge-teilt, klar?
Sohn:Ja. Und dann?
Vater: Und bei deiner Aufgabe musst du eben 28 Torten durch 7 teilen, jawohl. Ö 28 Torten. (Er sieht seinen Sohn an. Der begreift nichts.) Elke! Ich bin's leid. Kauf jetzt 28 Torten!
Mutter: Für wen denn?
Vater: Für uns sieben!
Mutter: Wir sind aber doch nur drei!
Vater: Dann werden eben noch vier dazu eingeladen! Die Gierigs, die alte Raffke und der gefräßige Herr Mertens. Kauf die Torten!
Mutter: 28 Torten?! Aber das ist ja viel zu teuer, Hermann!
Vater: Für die Bildung meines Sohnes ist mir nichts zu teuer. Jetzt kaufst du die 28 Torten!
Sohn: Aber das ist doch Wahnsinn! Da... da muss ja jeder von uns vier Torten essen!
Vater (stutzt, wird blass): Au weia, wenn ich nur dran denk', all das süße Zeug...
Mutter: Na also, dann könnten wir doch...
Vater: Nein! Die Aufgabe wird jetzt gelöst! Kauf die Torten!
Mutter (beim Hinausgehen): 28 Torten! Vier Torten für jeden! Das schaffen wir doch nie!
Nis Puck kann nicht lesen. Er will es lernen. Aber wie lernt man lesen? Keiner kann es ihm sagen.
Da fragt er den Hasen. „Kannst du mir sagen, wie man lesen lernt?“
„Nein“, sagt der Hase. „Ich habe es nie geübt. Ich brauche es nicht. Ich kenne den Weg zu meinem Kohl genau. Du musst die alte Eule fragen. Sie kann dir sicher helfen.“
Da geht Nis Puck zu der Eule und fragt: „Alte Eule, kannst du mir sagen, wie man lesen lernt?“
„Ja“, sagt die Eule. „Ich sah es oft bei den Menschen. Das ist nicht schwer. Pass genau auf! Du holst dir ein Buch. Du schlägst es auf. Und dann siehst du mit beiden Augen hinein. Das ist alles.“
„Danke“, sagt Nis Puck. „Das ist nicht schwer.“ Schnell läuft er nach Haus. Er holt sich ein Buch. Er schlägt es auf. Er sieht mit beiden Augen hinein. Aber es geht nicht. Nis Puck kann doch nicht lesen.
Da geht er noch einmal zu der alten Eule und sagt: „Ich tat alles, was du sagtest. Ich holte mir ein Buch. Ich schlug es auf. Ich sah mit beiden Augen hinein. Aber es ging nicht. Ich konnte kein Wort lesen.“
Die alte Eule nickt. „Ich vergaß etwas. Höre noch einmal zu: Du holst dir ein Buch. Du schlägst es auf. Du setzt dir eine Brille auf. Und dann siehst du mit beiden Augen durch die Brille in das Buch. Dann kannst du lesen.“
„Das ist nicht schwer“, sagt Nis Puck. Er läuft nach Haus. Er holt sich ein Buch. Er schlägt es auf. Er sieht mit beiden Augen durch die Brille in das Buch. Aber es geht auch diesmal nicht. Nis Puck kann kein Wort lesen.
Traurig geht er zu der alten Eule zurück und sagt: „Ich tat alles, was du sagtest. Ich holte mir ein Buch. Ich schlug es auf. Ich setzte mir eine Brille auf. Und dann sah ich mit beiden Augen durch die Brille in das Buch. Aber es ging nicht. Ich konnte kein Wort lesen.“
Die alte Eule nickt. „Du hast recht. Ich vergaß noch etwas. Du holst dir ein Buch. Du schlägst es auf. Du holst dir eine Brille. Du reibst die Gläser blank. Du setzt dir die Brille auf. Und dann siehst du mit beiden Augen durch die blanke Brille in das Buch hinein. Dann kannst du ganz gewiss lesen.“
Nis Puck läuft froh nach Haus. Er holt sich ein Buch. Er schlägt es auf. Er holt sich eine Brille. Er reibt die Gläser blank. Er setzt sich die Brille auf. Und dann sieht er mit beiden Augen durch die blanke Brille in das Buch hinein. Aber es geht immer noch nicht.
Armer Nis Puck! Er kann kein Wort lesen. Kannst du ihm sagen, wie man es macht?
Kindgemäß kann nur unterrichten, wer auch die Sache ernst nimmt und sie nicht hinter ablenkendem Glitter versteckt oder auf Passform mit einer vermeintlich kindgemäßen Verpackung zurechtbiegt und zuschneidet. Selbst dort, wo Kinder im Spiel lernen, spielen die Kinder nicht Lernen, sondern lernen wirklich. Wenn sie aber Lernen spielen, haben sie allenfalls kathartisch1 einen Gewinn, aber keinen Gewinn hinsichtlich des Gegenstands, den sie erlernen spielen.
Mit den zentralen Fragen, von denen man sich bei der Vorbereitung und Durchführung seines Unterrichts unter dem Aspekt der Kindgemäßheit leiten lassen will, ziele man nicht nur darauf, eine optimale Passung von „sachstrukturellem Entwicklungsstand“2 der Lernenden und Schwierigkeitsgrad der Lernaufgabe zu erreichen, oder darauf, das Lernen durch eine geeignete methodische Zergliederung des Unterrichtsgegenstands zu erleichtern und durch eine dramaturgisch geschickte Unterrichtsgestaltung zu stimulieren. Entscheidend ist, in welchem Maße es gelingt,
a) die persönlichen Bezüge des Kindes zu den
Phänomenen, sein Interesse, seine Sinnfragen und
b) die gesellschaftlichen Bedingungen heutiger Kindheit zu
berücksichtigen.
In Ilse Lichtenstein-Rothers hochaktuell-klassischem Buch „Schulanfang“ findet sich folgendes Beispiel:
»In einem ersten Schuljahr wurde folgende Aufgabe gestellt: „Bauer Müllers Scheune ist bei einem Gewitter in Brand geraten. Versucht einmal, diese brennende Scheune zu malen!“ [...]
Die Kinder fanden drei Möglichkeiten. Für eine Gruppe bestand die Aufgabe aus zwei voneinander unabhängigen Elementen: dem Feuer und der Scheune. Sie malten Feuer und Scheune in räumlicher Trennung. Ein Zusammenhang der beiden Bildteile durch das Brennen wurde nicht hergestellt. Der Grund für diese Reaktion auf die Aufgabe kann im Fehlen des Erlebnisses einer brennenden Scheune oder irgendeines anderen brennenden Gebäudes liegen. Da die Kinder mit Feuer und Scheune jedoch isolierte Erfahrungen verbanden, realisierten sie folgerichtig beide Teile in räumlicher Trennung voneinander.
Eine zweite Gruppe begann damit, dass sie das Feuer malte und es anschließend durch ein scheunenartiges Gerüst begrenzte. So „unlogisch“ diese Reaktion, misst man sie an der Realität, anmutet, so wird sie verständlich, wenn man bedenkt, dass hier dem Kind das Feuer wichtiger als alles andere war.
Eine dritte Gruppe kam dem realen Tatbestand der brennenden Scheune relativ nahe. Die Bildvorstellung dieser Kinder kann sich an Erlebtem, an Abbildungen oder filmischen Darstellungen orientiert haben. Die Scheune stand hier in Flammen, d.h. die Kinder hatten über und neben ein geschlossenes Gebäude Feuer gemalt. [...]
Hier beschritten die Kinder zwei Wege. Einige begriffen das Feuer als eine Kraft, die zerstört. Das Zerstören kam in der ungestümen Motorik ihrer Pinselschwünge zum Ausdruck. Ein vorher gemaltes Gerüst wurde nach und nach mit roter Farbe überdeckt. Die Scheune wurde unsichtbar, das Feuer beherrschte das Bild. In der Bildsprache des Kindes bedeutete dies: Das Feuer hat die Scheune verbrannt. Begleitende Sätze wie: „Jetzt wächst das Feuer, jetzt läuft es!“ machen deutlich, dass das Kind sich seiner besonderen Handlungsweise bewusst war.
Ein Kind verwirklichte den Vorgang der farblichen Veränderung des Feuers vom Ausbruch bis zum Qualmen, nachdem das Feuer eingedämmt war. Sein Feuer war erst gelb, wurde dann rot übermalt und anschließend mit schwarzem Qualm bedeckt.
Die genannten Lösungswege [...] stehen gleichwertig nebeneinander. Keiner ist wertvoller oder wichtiger, obwohl die Ergebnisse der Kinder, die die Aufgabe in einen Vorgang verwandelten, nicht unseren Vorstellungen von einem gelungenen Bild entsprechen. Sehr oft sind sie verschmiert und unansehnlich. Würde man diese Kinder kritisieren, so täte man ihnen wohl Unrecht. Sie haben ebenso wie die anderen die Aufgabe gelöst, nur in einer anderen, besonderen Weise. Sicher werden Kinder oft auch aus anderen Gründen ein verschmiertes Blatt abgeben. Hier kann nur die genaue Beobachtung der Kinder während des Malens entscheiden, was die Ursache ist.«[1]
[1] Huisken, Freerk: Möglichkeiten eines fachspezifischen Kunstunterrichts am Schulanfang. In: Lichtenstein-Rother, Ilse: Schulanfang. S. 372 f. Diesterweg, Frankfurt am Main, 1969 (7. Aufl.).