Im Lesebuch fanden meine Zweitklässler und ich ein Kaspertheaterstück, und das regte uns an, nun ein eigenes Kaspertheaterstück zu produzieren. Den Vorwurf hat sich die Klasse in gemeinsamer Arbeit ausgedacht, und nun gestalten sie ihn und proben in arbeitsteiliger Gruppenarbeit.
Der Inhalt des Stücks:
Kasper stellt sowohl seine schlagkräftige Furchtlosigkeit im Umgang mit gemeinen Gegenspielern wie dem Räuber Hotzenplotz, dem Krokodil und dem Teufel als auch - mit Hilfe der Zuschauer, weil doch die Polizei wieder einmal schläft und auch nicht mit versehentlichen Knüppelhieben wachzubekommen ist - seine kriminalistische Spürnase und - in Kontrast zu seinem etwas dümmlichen Gefährten Seppl - seine allgemeine Klugheit unter Beweis, und das alles zur Rettung der wunderschönen Prinzessin, die gleichwohl am Schluss nicht ihn, sondern den Prinzen heiratet, der die ganze Zeit zwar etwas vornehm-blasiert war und nichts getan hat, was ihm zur Ehre gereicht, aber den Kasper mit einem Goldstück belohnt, von dem Kasper seiner Großmutter die sehnlich erwünschte Spülmaschine kaufen kann, und dass der Held die Bedienungsanleitung falsch versteht (falsch verstehen will?), macht nichts: seine Freundin Gretel kann ihm alles erklären, bekommt dafür das Kompliment zu hören, sie sei fast so schön wie die Prinzessin und viel viel klüger und überhaupt ausgesprochen pfundig, was das Mädel mit einem dicken Schmatz belohnt, der den Kasper peinlich berührt und mit dem Theater Schluss machen lässt (übrigens: Kasper heiratet nie!).
Was ist denn nun hier das Thema, das es didaktisch zu analysieren gilt? Natürlich nicht die Spielhandlung (die Entführung der Prinzessin und deren Befreiung durch Kasper) selbst, denn die ist ja (fast) beliebig.
Ich frage mich also:
* Welchen Sinn hat das ganze Unternehmen?
* Wofür hat diese Arbeit exemplarische Bedeutung?
* Welchen Gewinn kann ich mir für die Weltsicht und Persönlichkeitsentfaltung meiner Schüler versprechen?
Die Antwort wird in den charakteristischen Merkmalen dieser Puppenspielgattung zu suchen sein. Aber ich will doch kein Seminar über das Typische, Elementare des Kasper-Puppenspiels halten! Ja, dann wird der didaktische Sinn in der lebendigen Umsetzung dieser typischen Merkmale in eine Spielhandlung liegen. Ich frage mich daher: Was sind die (operativen) Kriterien dafür, dass die Erfindung, Gestaltung und Aufführung unseres Kaspertheaterstücks „Die Entführung der Prinzessin“ uns selber etwas bringt - und nicht etwa nur lustbetont ist oder Zuschauerbeifall auslöst.
Ganz sicherlich gehört zu den zu untersuchenden Kriterien die Umsetzung des Komischen, des Heldenhaften und des Modellhaften der Kasperrolle und deren Herausarbeitung durch die deutlich kontrastierenden Charaktere der anderen Rollen.
Wenn es denn witzig ist und niemandem schadet als allenfalls den bösen Gegenspielern, lässt Kasper keine Gelegenheit aus, seine Mit- und Gegenspieler misszuverstehen. Er kann gar nicht anders, als immer lustig zu sein und fröhlich zu grinsen, selbst in der äußersten Gefahr. Außer Kasper gibt es niemanden, der neben ungebrochener Fröhlichkeit auch Gutmütigkeit und Fürsorglichkeit im Umgang mit seinen Lieben (Großmutter, Gretel, Seppl) und schlagkräftige Furchtlosigkeit im Umgang mit gemeinen Gegenspielern (Räuber Hotzenplotz, Krokodil, Teufel) in sich vereint. Wir bewundern Kasper wegen seiner nicht zu beeinträchtigenden Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten, die ihn aber niemals eingebildet erscheinen lässt. Das ist ganz wichtig: Wo Kasper zum Überhelden, zum Idol, werden könnte, weiht er uns in seinen Tatplan ein und lässt sich von uns helfen. Er lässt uns erfahren: Ohne uns könnte er in brenzligen Situationen nicht bestehen. Sein Heldentum ist gewissermaßen demokratisch zustande gekommen und immer auch ein bisschen unser eigenes Heldentum. Kasper unterscheidet sich von uns durch sein unbekümmertes Draufgängertum und dadurch, dass er den Kampf gegen die Angst verbreitenden Gegenspieler genießt. Dass die Obrigkeit gegenüber der Bedrohung blind und hilflos ist, trägt zur Verschärfung der Gefahrensituationen und damit zur zusätzlichen Herausstellung Kaspers bei. Dass die wunderschöne Prinzessin, die dem Kasper ihre Errettung verdankt, gleichwohl am Schluss nicht ihn, sondern den blasierten Prinzen heiratet, gehört zur Kaspertheaterwelt, die stets in der alten Ordnung bleibt. Kasper räumt mit allem auf, was die Welt ernsthaft in Unordnung bringt; nur er selbst darf angemaßte Autoritäten durch verbale oder tätliche Schlagkraft aus der Fassung bringen, denn das ist lustig und versöhnt uns damit, dass im Prinzip alles beim alten bleibt. Kasper könnte und wollte nie König werden, und auch wir würden es nicht wollen: denn er ist einer von uns - aber eben ein ganz besonderer.
Verdutzt bemerke ich an dieser Stelle meiner Betrachtungen, in welch bedeutungsreicher Beziehung das Kaspertheater zu unserem tatsächlichen Leben steht! Wir spielen Persönlichkeitstypen und soziale Beziehungen durch, stark vereinfacht zwar, aber um so klarer. Da bin ich ja schon fertig mit der didaktischen Begründung des Unterrichtsvorhabens (fertig mit meiner didaktischen Analyse)!
Äh, fast fertig, denn die Frage nach der Funktion unseres Vorhabens für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder verlangt noch eine Überlegung. Ich werde den Kindern vorschlagen, die Rollen nicht in Übereinstimmung mit den Spielerpersönlichkeiten zu verteilen, sondern eher entgegengesetzt. So können die „Maulwürfe“ unter meinen Schülern sich in selbstbewusstem Draufgängertum üben, die „Schlimmen“ in vornehmer oder liebreizender Zurückhaltung, die „Engel“ in hinterlistiger Gemeinheit und die „Leistungsasse“ in unfähiger Borniertheit. Wenn das kein Beitrag zur Entfaltung von Persönlichkeit ist ...!
Jetzt sind mir die Grundlage und das Ziel unseres Unterrichtsvorhabens klar: Auf der Kinderseite ist es das Ausleben von Spiellust; auf Lehrerseite ist es die didaktische Intention, durch die spielnahe Herausarbeitung der stereotypen Merkmale des Kaspertheaters ein Stück Lebenswelt deutlich werden zu lassen - und vielleicht ein bisschen Distanz von den einschlägigen Klischees zu gewinnen.
Gerhart Dieter Greiß
Ausbildungsleiter am Studienseminar für die Lehrämter in 34497 Korbach
Lehrer an der Uplandschule in 34508 Willingen