Den meisten Lehrern leuchtet als selbstverständlich ein,
dass handlungsbezogene Lernaufgaben wie „Hocke über den
quergestellten Kasten“ oder „sachgerechtes Anlegen
eines Radieschenbeets im Schulgarten“ kaum ohne entsprechende
Handlung im Lernprozess erreicht werden können.
Was aber bedeutet "Handlungsorientierung" für das
Mathematiklernen?
Das Leben in einer hochindustrialisierten Gesellschaft wird zunehmend von Strukturen bestimmt, die sich nur in abstrakten Systemanalysen erschließen lassen. Folgt daraus, dass die (Grund-, Haupt-, Real-, Gymnasial-)Schüler auf die strukturelle Abstraktheit der Gesellschaft vorbereitet werden müssen, indem die Lerninhalte selber auf einem entsprechenden Abstraktionsniveau bestimmt werden und konkrete Erfahrungen als nebensächlich oder aber nur als didaktisches Mittel zur Erschließung des „Wesentlichen“: des Abstrakten, anzusehen sind?
Ist schon der Unterricht „handlungsorientiert“, der handelndes Lernen organisiert?
Handlungsorientierter Unterricht ist offener Unterricht.
Handlungsorientiertes Lernen ist kommunikatives Lernen.
Der Mathematikunterricht muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden:
Die didaktisch-psychologische Frage, inwiefern ein Handlungszusammenhang eine Funktion für das Mathematiklernen habe, ist sinnvoll erst dann zu stellen, wenn die vorrangige pädagogische Frage geklärt ist, inwiefern ein mathematischer Sachverhalt eine Funktion für Handlungszusammenhänge hat.
Es gilt, Erfahrungsfelder zu identifizieren, in denen mathematische Verfahren tatsächlich für die Aufklärung und Bearbeitung eines Sachverhalts notwendig werden. [...]
„Der >Wirklichkeitsbezug< im Mathematikunterricht der Grundschule besteht im allgemeinen darin, dass die Erfahrungswelt der Kinder allenfalls zu abstrakten Strukturierungsübungen herangezogen wird, ohne zu berücksichtigen, ob die Kinder dadurch eine wirkliche Aufklärung über ihre Welt erfahren. Vielmehr handelt es sich meist um inhaltlich unangemessene Formalisierungen oder gar um Entstellungen der Wirklichkeit.“ (S. Schütte, 1989)
Die für die Arbeit mit didaktischem Material vorgeschlagenen Phasenfolgen nach dem Prinzip „vom freien zum strukturierten Spiel“ und „vom Handeln über die Anschauung zum Denken“ (Z. P. Dienes) bringen es mit sich, dass die Kinder ihre konkreten kreativen Gestaltungsideen und ihren Erlebnisbezug immer wieder gegenüber abstrakten Ordnungsideen und Sachverhalten zurückdrängen müssen.
Das kann den Kindern nicht verborgen bleiben. Mathematikunterricht trägt tüchtig zur schulspezifischen (und gesellschaftstypischen?) Sozialisation der Kinder bei, deren Kennzeichen die Gewöhnung an den funktionalistischen Charakter alles zu Lernenden und aller Lernweisen ist und - was noch schlimmer ist: die Gewöhnung an die funktionalistische Entfremdung aller Motive und Lebensbezüge. Mathematiklehrer müssen aufhören, sich unter der (wenig widersprochenen) Schutzbehauptung alle möglichen didaktischen Kümmerlichkeiten zu erlauben, die Mathematik sei erstens außerordentlich wichtig, zweitens sowieso nicht zum Anfassen da und drittens ein so umfassendes System von seit Menschengedenken[1] und auf ewig festliegenden Abstraktionen und Verfahren[1], dass man erstens auf ein lebensnahes Mathematiklernen 7/8 nur unter Umständen rekurrieren müsse und man zweitens ausgesprochen wenig Zeit für lebensnahen Unterricht habe.
a) Primat des Kindes (anstelle des Primats der Wissenschaft),
b) Mathematisieren als Prozess (anstelle einer starren Stoffstruktur),
c) sachinhaltliche Einbettung mathematischer Inhalte (anstelle von „Anwendung“ und „Veranschaulichungen“),
d) Thematisierung von Möglichkeiten und Grenzen mathematischen Handelns in bezug auf die Ausbildung des kindlichen
Weltverständnisses,
e) methodische Öffnung des Unterrichts in Richtung auf einen individualisierenden offenen Unterricht.
„Didaktische Reduktion“[1] ist nicht einfach die Rückführung eines Begriffs oder Sachverhalts auf eine diesem Begriff oder Sachverhalt zugrundeliegende Handlung, sondern die Rückführung eines Begriffs oder Sachverhalts auf eine diesem Begriff oder Sachverhalt zugrundeliegende Handlung, die den Kindern naheliegt: am Herzen liegt, unter den Nägeln brennt, in den Fingern juckt, ein abenteuerliches oder versponnenes Spiel (probeweises Verändern, erkundendes Sich-Einlassen) mit der Realität ist. 10
Als Kognitionsoperatoren, die zwischen einem Ausgangsproblem und einer Sachverhaltserkenntnis vermitteln, sind die Strategien anzusehen, die die Schüler in handelnd durchdachten, durchgearbeiteten Problemlösungsprozessen haben entwickeln können. Dabei kommt es entscheidend darauf an, die Lernenden nicht auf der Stufe des bloßen Tuns und Erfahrens stehen zu lassen, sondern sie - nach erstem erfahrungsgebundenem Vertrautwerden mit der Sachumgebung - im Vorausbedenken und durchdachten Optimieren und Modifizieren ihres Tuns zu unterstützen.
Das Denken ergibt sich nicht ohne weiteres aus dem Tun. Ein kognitionspsychologisch relevanter Handlungsbegriff hat den Wechselbezug zwischen Denken und Tun zum Inhalt. Die instrumentelle Bedeutung des Denkens für die intelligente Steuerung von Praxis ist nicht nur Ergebnis, sondern bereits wesentlicher Bestandteil eines jeden kognitiven Lernprozesses. Es wäre sachlich falsch, Erfahrung mit Anschauung und Denken mit Erfahrungswissen gleichzusetzen und die Prozesse des induktiven Lernens auf das Kumulieren von Erfahrung zu verkürzen. Vielmehr entwickelt sich das Denken, indem es beim Tun für das Tun beansprucht wird. Dieser kognitionspsychologische Sachverhalt muss im Unterricht zum Tragen kommen und daher schon bei der Unterrichtsvorbereitung berücksichtigt werden.
Handlung ist in anthropologischer Sicht ein Wechselspiel von absichtlichen, zweckgerichteten, von Interessen ausgehenden und von Denkprozessen gesteuerten Aktivitäten, mit denen das Individuum seine Welt seinen Vorstellungen gemäß verändern will oder seine Vorstellungen den in der Welt vorgefundenen Handlungserfordernissen und -bedingungen anzupassen versucht, ein Wechselspiel, in dem der einzelne als seiner selbst Bewusster und sich als Ganzes Bewahrender mit sich und mit Welt auseinandersetzt.
Handeln in konkreten Situationen und Umgang mit konkretem Material soll den Kindern Erfahrungen ermöglichen und sie in die Lage versetzen, Vermutungen über regelhafte Beziehungen vorzutragen und zu begründen. Diese Schülerbeiträge bieten Anlässe und Anstöße zum genaueren, systematischen Durchdringen des Sachzusammenhangs. An die Stelle vorläufiger Sachverhaltsvermutungen können dann begründete und gesicherte Regelerkenntnisse treten. Feststellungen einzelner Schüler, die auf einen Lernprozess schließen lassen konnten, gewährleisten noch keinesfalls, dass auch die anderen Schüler den zur Sprache gekommenen Sachverhalt zuvor oder jetzt durch Rezeption jener Äußerungen erfassen können.
„Die Mathematik ist von den frühesten Zeiten her, wohin die Geschichte der menschlichen Vernunft reicht,... den sicheren Weg einer Wissenschaft gegangen. Allein man darf nicht denken, dass es ihr so leicht geworden, wie die Logik, wo die Vernunft es nur mit sich zu tun hat, jenen königlichen Weg zu treffen, oder vielmehr sich selbst zu bahnen; vielmehr glaube ich, dass es lange mit ihr beim Herumtappen geblieben ist...“ Immanuel Kant: Die Kritik der reinen theoretischen Vernunft (1781).