"A problem well stated is a problem half solved."
Charles Kettering, 1876-1958

Sachaufgaben

Problemorientierter Mathematikunterricht

- Fragen und ein paar Antwortskizzen -

1. Sachaufgabenbewältigung ist das eigentliche Ziel des Mathematikunterrichts. [1]

2. Um aber Sachaufgaben bewältigen zu können, sind spezifische mathematische Fähigkeiten erforderlich.

3. Diese Fähigkeiten beruhen im sachadäquaten Mathematisieren und im Zugriff auf spezifisch mathematische Techniken der Problemverarbeitung.

4. Dennoch soll die Reihenfolge nicht lauten „erst Techniken, dann Anwendung", sondern die Techniken sollen aus der exemplarischen Anwendung heraus entwickelt werden.


[1] Wenn das so ist, was ist dann eine „Sachaufgabe"?

Gegenstandstheoretisches

Was ist eine Aufgabe? Was ist ein Problem? Was ist eine Lösung?

Gibt es Algorithmen für das Problemlösen? Was ist ein Algorithmus?

Ein Problem an sich gibt es nicht. Ein Problem ist mir ein Sachverhalt nur insofern, als ich ihn durchschauen will, aber noch nicht durchschaue. Für andere kann dieser Sachverhalt völlig problemlos sein: weil sie ihm gar nicht begegnen oder weil sie ihm interesselos gegenüberstehen oder weil sie ihn bereits durchschauen. „Problem" ist ein subjektives Phänomen; seine Parameter sind: Begegnung, Einsichtsmangel und Einsichtsinteresse. 

Didaktisches

Wozu problemorientierter Unterricht?

Drei Gründe, die sich aus den intendierten Transfer-Erwartungen herleiten lassen: 
a) Motivationaler Grund zum Erwerb neuer mathematischer Einsichten und Qualifikationen (Aufbau von Begriffen und Operationen; Transfer-Erwartung: Anwendung dieser Begriffe und Operationen in analogen Sachzusammenhängen);
b) Verankerung erworbener mathematischer Qualifikationen in der Gesamt-Verhaltensdisposition (Auslotung des Bedeutungsumfangs der aufgebauten Begriffe und Operationen; Transfer-Erwartung: Verfügung über diese Begriffe und Operationen in entsprechenden Sachsituationen);
c) Erlernen von Strategien für das Problemlösen selbst (Entwicklung heuristischer Einstellungen; Transfer-Erwartung: Erkennen von Problemarten und Verfügen über Orientierungsschemata).
Nicht nur die Befähigung zum Bearbeiten und Lösen von Problemen ist intendiert, sondern auch zum Aufmerksamwerden auf Probleme. 

Methodisches

Merkmale eines problemorientierten Unterrichts:
a) Kriterien der Thematisierung;
b) Unterrichtsverfahren (didaktische Strategien wie Probierphasen und „Ruhe"-Phasen);
c) Unterrichtsform;
d) Interaktionsweisen (Lehrer/Schüler; Schüler/Schüler). 

Aufgaben aus dem Mathematikbuch? 

Unterschied zwischen aufgabendidaktischem und produktivem Unterricht
Aufgabenklassen;
heuristische Strategien erlernen
gleichartige Verfahren (Muster);
Anwendung in didaktisch arrangierten Situationen

Was sind heuristische Strategien? Wie können Schüler diese Strategien erlernen (methodische Feinstruktur)? 

Beispiel: Wieso sind alle sechsstelligen Zahlen mit dem Bauplan ABCABC durch 13 teilbar? (Konflikt-, Ziel-, Materialanalyse)

„Es ist schrittweise möglich, lernbereite und geistig normal entwickelte Schüler auch zu Ansätzen eines Problemlösens mit dem behandelten Arsenal an mathematischen Mitteln zu befähigen,
- wenn die Schüler mit Problemsituationen konfrontiert werden, aus denen heraus erst konkrete (und nicht unbedingt schwierige) mathematische Aufgaben abgeleitet werden müssen [...],
- wenn sie neuen Stoff so bewußt lernen, dass sie in der Lage sind, sich selbst Kontroll- und Beispielaufgaben zu stellen [...],
- wenn zielstrebig Teilhandlungen des Problemlösens anhand geeigneter Aufgaben ausgebildet und trainiert werden [...],
- wenn eine gewisse Kompensation von hoher Vergessensquote und unterschiedlichem Festigungsbedarf bei den Schülern durch systematische Wiederholungen und Übungen von elementaren Grundlagen erfolgt, z.B. in differenzierten Aufgabenfolgen [...]; dabei sollten neben den Aufgaben in Standardform auch die jeweiligen Umkehraufgaben gleichermaßen berücksichtigt werden, um die Reversibilität des Denkens zu schulen [...], 
- wenn mathematische Begriffe, Zusammenhänge und Verfahren und typische Anwendungen unter verschiedenen Blickwinkeln systematisiert werden [...], 
- wenn in Übungs- und Problemlösephasen für die Schüler Wahlmöglichkeiten bestehen, die ihren unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen und Anspruchsniveaus differenziert Rechnung tragen - z.B. durch Auswahlaufgaben mit unterschiedlichen Anforderungen [...]; durch Stellen komplexer Aufgaben mit individuell abrufbaren Lösungshilfen [...], 
- wenn bestimmte Methoden und Techniken des Problemlösens explizit vermittelt werden, um ggf. mangelnde geistige Beweglichkeit beim Umgang mit bestimmten mathematischen Mitteln teilweise zu kompensieren - heuristische Schulung.“ [1]

"A problem well stated is a problem half solved." Charles Kettering, 1876-1958
 

Mathematikspezifisches

Arten von Problemen als Gegenständen des MU:
a) Sachproblem (Mathematisierungsproblem);
b) Aufbauproblem (Transponierungsproblem);
c) Beweisproblem.

Zu a) Gesucht ist zunächst die Relation zwischen den Unbekannten und den Daten. Dazu müssen oft fehlende Daten erkundet werden. Dann stellt sich die Frage nach dem geeigneten Lösungsgang für diese Relation. 
Beispiele:
a ) Geplant ist ein Klassenausflug zum Brühler Fantasialand. Die Fahrtkosten sollen so niedrig wie möglich sein; welche Ausflugskosten kommen auf den einzelnen Teilnehmer zu? 
b ) „Ist die Form des Quaders für Milch- und Saftverpackungen tatsächlich die günstigste im Hinblick auf den Verbrauch an Verpackungsmaterial?“ [2]

Zu b) Gesucht sind die vermittelnden Begriffe / Operationen / Verfahren.
Bisher erlernte Begriffe / Operationen / Verfahren sind nur nach Erweiterung /Differenzierung / Übertragung anwendbar.

Beispiele:

a ) Wie kann man den Zinssatz für eine bestimmte feste Spareinlage berechnen, wenn man die Zinsen für den Zeitraum vom 2.4. bis zum 19.8. eines Jahres kennt? (8. Klasse)
b ) „Kann man eine Korkkugel von einem Meter Durchmesser tragen? (Einstieg zur Behandlung des Kugelvolumens)“ [3]
g ) L fordert S auf, sich eine beliebige natürliche Zahl zu denken, zur gedachten Zahl 5 zu addieren, die Summe mit 18 zu multiplizieren, davon das Dreifache der gewählten Zahl zu subtrahieren, das Ergebnis durch 15 zu dividieren und vom Resultat die eingangs gewählte Zahl zu subtrahieren. Ohne dass S etwas sagt, kann L jetzt das Endergebnis der Rechnung verkünden. [4]
d ) „Geburtsdatum erraten: die Tageszahl des eigenen Geburtsdatums verdoppeln, 5 addieren, mit 50 multiplizieren, die Monatszahl addieren. Lösung: Vom erhaltenen Ergebnis muss der Versuchsleiter [...] 250 subtrahieren.“ [5]

Psychologisches

Externe Bedingungen für die Entfaltung der Problemlösefähigkeit (pressionsfreie Atmosphäre, ...).
„These: Problemlösen kann in einem freudbetonten, binnendifferenzierenden und Methoden und Techniken des Lernens thematisierenden Unterricht schrittweise gelernt werden. Wichtig: Nicht nur Aufgaben lösen, sondern auch über Aufgaben sprechen!“ [6]
„Ein Mathematikunterricht, in dem Schüler Problemlösen lernen,
- bemüht sich um eine vertrauensvolle, freudbetonte und auf Erkenntnisinteresse beruhende Lern- und Arbeitsatmosphäre, 
- bemüht sich um entwicklungsgemäße und entwicklungsfördernde Leistungsanforderungen,
- stellt nicht nur Forderungen an die Schüler, sondern vermittelt auch fachspezifische und allgemeine Methoden und Techniken des Lösens von Problemen mit mathematischen Mitteln,
- unterstützt das Ausbilden von Teilhandlungen des Problemlösens mit geeigneten Aufgabenstellungen.“ [7]

Zur Entfaltung der Problemlösefähigkeit ist vor allem eine didaktisch-psychologisch motivierte und wohlstrukturierte Bearbeitung von Sachaufgaben geeignet, aber auch von innermathematischen Zusammenhängen (Strukturerkenntnis). 

Interne Bedingungen für die Entfaltung der Problemlösefähigkeit. 
„Problemlösen als geistige Tätigkeit ist wie jede andere auch gekennzeichnet 
- durch bestimmte Antriebe (Anreize, Motive, Einstellungen) - insbesondere Erkenntnisinteresse und Beharrlichkeit,
- durch (fachspezifische) Inhalte (insbesondere mathematische Begriffe, Sätze und Verfahren zur Problemlösung) bzw. bestimmte Handlungsobjekte (Sachsituationen, zu beweisende Behauptung usw.) und 
- Verlaufseigenschaften wie geistige Beweglichkeit, Ziel- und Methodenbewußtheit, Exaktheit u. ä.“ [8]

Welche grundsätzlichen Hinweise erhalten wir aus der Gestaltpsychologie?
Die unterschiedlichen Funktionen des konvergenten und des divergenten Denkens. Bei der Problembearbeitung ist Divergenz gefordert; hinsichtlich des sachlich richtigen Ziels ist Konvergenz nötig. Antriebe zum Problemlösen mit mathematischen Mitteln können sich leichter entwickeln,
- wenn man sich als Schüler im Unterricht auch einmal irren darf, wenn Zeit zum Nachdenken eingeräumt wird und Schmierzettel zum Probieren legitim sind,
- wenn die Schüler wissen und einsehen, was im Unterricht warum und wie gemacht wird, z.B. durch langfristige Motivationen und Einbeziehung der Schüler in die Teilzielplanung des Unterrichts,
- wenn Klarheit über Leistungsanforderungen und Leistungsbewertung besteht, wenn die Schüler lernen, eigene Stärken und Schwächen zu erkennen und wenn sie Angebote zur Überwindung von Schwächen und zur Förderung von Stärken erhalten,
- wenn die Aufgabenstellungen verständlich [...] formuliert sind und eine gewisse Beziehung zum Lebens- und Erfahrungsbereich der Schüler besitzen,
- wenn Lernerfolge sichtbar werden.“ [9]


[1] Bruder, Regina: Problemlösen lernen - aber wie? Ein altes, aber nicht befriedigend gelöstes Thema? In: mathematik lehren, H. 52, Juni 1992, S. 6-12 (Zitat: S. 8).
[2] Ebenda, S. 7.
[3] Ebenda.
[4] Nach Bruder, Regina, ebenda, S. 8.
[5] Ebenda.
[6] Ebenda, S. 6.
[7] Ebenda.
[8] Ebenda, S. 7.
[9] Ebenda, S. 7