Der Terminus „didaktische Reduktion“ wird in küchendidaktischem Sprachgebrauch zur „Beschränkung der Lernstoffmenge aus Rücksicht auf die begrenzte Aufnahme-, Verarbeitungs- und Behaltenskapazität der Lernenden“ simplifiziert. Man spricht ja auch davon, dass man als Kraftfahrer Kindern zuliebe in Schulnähe die Geschwindigkeit reduzieren soll (Reduce your speed NOW!). Aber so einfach liegen die Dinge um die erziehungswissenschaftlichen Begriffe nicht.
Der Reduktionsbegriff der Didaktik hat wenig mit dem Reduktionsbegriff des Straßenverkehrs zu tun, eher etwas mit dem Reduktionsbegriff der Chemie: 2H2O + Energie → 2H2↑ + O2↑ als Elementarisierung, wobei die Elemente ein höheres Energiepotential haben (Vorsicht, Knallgas!) und nicht etwa atomar oder gar in isolierte Kernteilchen zerspalten daherkommen.
Wer seinen Reduktionsbegriff an unseren Bezugswissenschaften orientieren will, lese ein Kompendium über Wissenschaftstheorie. Edmund Husserl erfasste mit seinem Begriff „phänomenologische Reduktion“ nicht (quantitativ) die Beschränkung von irgend etwas, sondern (qualitativ) die Herausarbeitung der Wesens- und Bedeutungsgehalte der Phänomene, den Rückgang auf die originären Quellen der Anschauung. Dieses Anliegen entspricht dem von Wilhelm Dilthey, auf dessen geisteswissenschaftliche Erkenntnistheorie letzten Endes der Begriff der didaktischen Reduktion zurückzuführen ist. Wilhelm Dilthey knüpft an Comenius und Pestalozzi (Elementarisierung) an. Wir lesen über didaktische Reduktion das meiste bei Heinrich Roth und Martin Wagenschein sowie (unter dem Begriff der didaktischen Elementarisierung) bei Wolfgang Klafki.Da (nach der Erkenntnistheorie Kants) alles menschliche Wissen subjektiv vermittelt ist, muss, wie Heinrich Roth sagt, didaktische Praxis die „objektiven geistigen Gehalte einer Kultur in die persönliche Geistigkeit des Lernenden“ resubjektivieren. Diese Resubjektivierung des Objektiven ist der Inhalt des Begriffs didaktische Reduktion, und nicht etwa eine Einschränkung in der Menge oder der Schwierigkeit.
„Die menschliche Seite des Gegenstands aufzuschließen, ist so recht die Aufgabe der Menschlichkeit des Lehrers. Vergessen wir doch nicht, dass diese menschliche Seite am Kulturgut oft ein Schlüssel zu seinem eigentlichen Wesen ist.“
Die didaktische Reduktion (H. Roth, M. Wagenschein) oder didaktische Elementarisierung (H. Pestalozzi, W. Klafki) ist als zentrales Prinzip für die Unterrichtsplanung der methodischen Konstruktion von Unterrichtsprozessen über- und vorgeordnet.
Die didaktisch-reduktive Frage ist keine fachwissenschaftliche, sondern eine pädagogisch-anthropologische; sie lautet: Welche Zugänge haben die Schüler zu dem Unterrichtsgegenstand; welche Zugänge hält der Unterrichtsgegenstand für die Lernenden in sich bereit?
Didaktische Reduktion ist nicht etwa gleichbedeutend mit einer Einschränkung von Ergebnissen fachwissenschaftlicher Denkarbeit, sondern sie erweitert derartige Ergebnisse um die hermeneutische Betrachtung der Prozesse, die zu fachlichem Wissen geführt haben und von den jeweiligen Schülern (unter Anleitung) nachvollzogen werden können, oder um die Betrachtung der Prozesse, die die Schüler zu den anstehenden Erkenntnissen führen können. Einen Sachverhalt didaktisch zu reduzieren bedeutet: a) sein mögliches Verhältnis zu den persönlichen Bedeutungs- und Aneignungskontexten der Schüler zu klären, anders gesagt: sich auf die anthropologische Dimension (H. Roth) / pragmatische Dimension (H. Winter) zu konzentrieren, die seine Thematisierung im Unterricht überhaupt erst pädagogisch begründet; b) ihn dementsprechend auf konkrete, dem Entwicklungsstand der Schüler angemessene Handlungsprobleme und Erlebnismöglichkeiten zurückzuführen, die in ihm abstrahiert, generalisiert oder impliziert sind; c) dies geschieht, indem der Sachverhalt durch ein Problem und/oder in Gestalt eines Modells und/oder einer exemplarischen Situation dem Interesse und der Auseinandersetzung der Schüler zugänglich gemacht wird, und zwar so, dass die Auseinandersetzung mit dem Problem oder mit dem Modell oder mit der Situation die Dynamik der Arbeit am Thema weiträumig trägt.
Ein Lerngegenstand ist didaktisch reduziert, wenn zwischen ihm und dem Lernenden eine intensive originale Begegnung (Heinrich Roth) möglich ist.
Theoretisch-mathematische Darstellungen führen von abstrakten Axiomensystemen über (mathematische) Modelle, die diese Systeme konkretisierend mit Bedeutungen belegen, zu der Möglichkeit, diese syntagmatischen und paradigmatischen Strukturen auf Sachwirklichkeitsbereiche zu beziehen, also pragmatische Sinnbezüge herzustellen. In einer schülergemäßen Didaktik des Mathematiklehrens, -lernens und -treibens müssen wir genau umgekehrt die von den pragmatischen Handlungs- und Denkanlässen ausgehende Konstruktion von Begriffsstrukturen und Zeichensystemen anstreben, die wiederum ihren Zweck nicht in sich selbst haben, sondern darin, dass sie dem Denken in den verschiedenen Handlungsbereichen Ordnung, Klarheit und Instrumente verschaffen.
Weil strenge Mathematiklehre aufgrund didaktischer Inversion (Freudenthal) den Weg ihrer Entstehung verleugnet, muss der Lehrer bei der Unterrichtsplanung noch einmal Mathematik treiben - statt die Ergebnisse des Mathematiktreibens anderer einfach zu übernehmen.
Zwar „soll man seine Mathematik anderen nicht so mitteilen, wie sie einem eingefallen ist, aber doch so, wie sie einem hätte einfallen können, wenn man damals gewusst hätte, was man nun weiß, und wie sie dem Schüler einfallen könnte, wenn man sein Lernen leitet. Das ist die Lehre der Lektion, die Sokrates dem Sklaven des Menon erteilte. Im Gedankenexperiment kann man versuchen festzustellen, wie solch ein Schüler nacherfinden könnte, was man von ihm verlangt.“ Didaktisches Gedankenexperiment nennt Freudenthal also den Teil der Unterrichtsvorbereitung, in dem sich der Lehrer bei seinem konstruktiven mathematischen Nachdenken mit intellektueller Einfühlung (J. Piaget) auch schon von den möglichen Denkweisen seiner Schüler leiten lässt.
Erst durch didaktische Reduktion kann der Lehrer klären, was an der Sache (↗Sachanalyse) den Schülern nun wirklich zum ↗Thema werden kann, muss und soll. In dem, was den Lernenden zum Thema werden soll, muss der Lehrer dasjenige erkennen, das auf elementare Weise latent oder aktuell bereits Thema der Schüler ist.
Das Elementare ist die Schnittstelle zwischen dem zu Thematisierenden und den Lernenden. Wenn es bestimmt ist, kann die pädagogisch zentrale Frage nach den Zugängen der Lernenden zu dem Neuen geklärt werden, und unter dieser Voraussetzung kann die methodische Konstruktion der didaktischen Absicht entsprechend darauf angelegt werden, dass die Schüler das Neue, Tiefergehende, Besondere oder Allgemeinere des neuen Lerngegenstands erkennen und sich geistig aneignen können.
Aus der didaktischen Reduktion, durch die der Lehrer bei
seiner Unterrichtsvorbereitung einen Gegenstand aufbereitet, ergibt
sich als praktische Konsequenz die unterrichtsmethodische Struktur
der didaktischen Induktion (Memmert). Eine besondere Form des
induktiven Unterrichts ist der exemplarische Unterricht. Dessen
spezifische Verlaufsstruktur ist durch drei Schritte gekennzeichnet:
I. Konfrontation des Lernenden mit dem einfachen, prägnanten
Fall (Exposition; die Schüler sollen stutzig werden und zum
Fragen angeregt sein);
II. Identifizierung des Allgemeinen in der
Auseinandersetzung mit einem Besonderen (Abstraktions- und Generalisationsprozess;
die Schüler sollen intensiv arbeiten und forschen können);
III. Wiedererkennen des Allgemeinen im komplizierteren Fall
mit gleicher Struktur (Transfer, Variation, Differenzierung).
Entscheidend ist es, dass das didaktisch-methodische
Arrangement den Lernenden genügend starke Anregung gibt und hinreichend viel
Freiraum gewährt, damit sie beim Handeln in oder mit dem
Modell eine möglichst breit angelegte Palette intensiver
Erfahrungen gewinnen können. Die Struktur dieser Erfahrungen herauszuarbeiten,
leitet anschließend den Übergang vom Modell zum fachlich bestimmten
Sachverhalt ein.
Didaktische Reduktion ist nicht einfach die Rückführung
eines Begriffs oder Sachverhalts auf eine diesem Begriff oder Sachverhalt zugrundeliegende Handlung, sondern didaktische Reduktion ist
die Rückführung eines Begriffs oder Sachverhalts auf eine diesem
Begriff oder Sachverhalt zugrundeliegende Handlung, die den
Lernenden naheliegt: am Herzen liegt, unter den Nägeln brennt, in den Fingern juckt, ein abenteuerliches oder versponnenes Spiel
(probeweises Verändern, erkundendes Sich-Einlassen) mit der Realität ist.
Die didaktisch-psychologische Frage, inwiefern ein Handlungszusammenhang eine Funktion für das (fachlich
definierbare) Lernen habe, ist sinnvoll erst dann zu stellen, wenn die
vorrangige pädagogische Frage geklärt ist, inwiefern das fachlich
Definierte überhaupt eine Funktion für Handlungszusammenhänge hat.
Noch einmal: Erst wenn die vorrangigen pädagogischen Fragen geklärt sind:
1. Welche Lebenssituationen und welche Handlungsinteressen können und müssen ein Unterrichtsvorhaben begründen?
2. Welche fachlich definierbaren Inhalte sind für den so
bestimmten Unterrichtszweck relevant?
ist es sinnvoll, zu fragen:
3. Welche Handlungssituationen vermitteln zwischen den
fachlich definierten Inhalten und dem Lernenden?
Siehe auch die allgemeindidaktische Fassung.