Gerhart Dieter Greiß
Vorab: Frage nach der Legitimation des Mathematikunterrichts
„Die ¸Lehre‘ (¸máthema‘) der Pythagoreer [...] war eine mit religiösen Momenten vielfältig durchsetzte Doktrin einer konspirativen Bruderschaft, tradiert im Rahmen strenger Rituale und Lebensvorschriften, denen ihre Mitglieder unterworfen waren.“ [Damerow, Peter: Mathematikunterricht und Gesellschaft. In:Heymann, Hans Werner (Hrsg.): Mathematikdidaktik zwischen Tradition und neuen Impulsen. Aulis, Köln, 1984. S. 21.]
„Mathematische Ausbildung dient vor allem der scheinbar objektiven Selektion aus einem Überangebot an Bewerbern für bestimmte gesellschaftliche Positionen.“ [Sträßer, Rudolf: Mathematik als Element beruflicher Qualifikation. In: Heymann, Hans Werner (Hrsg.): Mathematikdidaktik zwischen Tradition und neuen Impulsen. Aulis, Köln, 1984. S. 58.]
„Die Bemühungen, durch sachstrukturelle Analysen zu immer präziser festgelegten Lernzielen für den Mathematikunterricht zu gelangen, sind zumeist darauf ausgerichtet, die Lernschritte so festzusetzen, dass jeweils optimale Bedingungen für die nachfolgenden Lernschritte geschaffen werden. In einem solchen Verfahren der Bestimmung von Lernzielen ist als stillschweigende Voraussetzung eine zirkuläre Antwort auf die Frage nach Sinn und Nutzen des Mathematikunterrichts enthalten: Man lernt Mathematik, um weiter Mathematik lernen zu können - in der Grundschule für die Sekundarstufe I, in der Sekundarstufe I für die Berufsausbildung oder für die Oberstufe, in der Oberstufe für das Studium. Aber für jeden Lernenden kommt der Tag, an dem diese Begründungskette abreißt. Die Zahl derer, die professionell oder aus Neigung jeden Lernschritt bis an ihr Lebensende stets als Voraussetzung für weitere mathematische Kenntnisse begreifen können, ist verschwindend gering. Für die übrigen kommt der Tag, an dem sich die Frage nach dem Sinn des Mathematikunterrichts in anderer Weise stellt: Kann das Gelernte getrost vergessen werden, oder hat es auch außerhalb der Mathematik eine Funktion?“ [Ebd., S. 11.]
Ergebnisse einschlägiger Untersuchungen der Arbeitssoziologie und der Qualifikationsforschung:„Spezifisch mathematische Qualifikationen werden im konkreten Arbeitsvollzug höchst selten beobachtbar eingesetzt und spielen auch im Bewusstsein der untersuchten Arbeitnehmer und ihrer Vorgesetzten allenfalls eine Nebenrolle.“ [Ebd., S. 56.] „Die Frage nach der Mathematik am Arbeitsplatz“ „kann nicht auf die Frage nach der unmittelbar verwendeten Mathematik verkürzt werden.“ [Ebd., S. 56 f.]
These 1:
Der gefächerte Schulunterricht läuft in der Praxis im
allgemeinen auf eine lebensfremde, unfruchtbare und auf Menschen
keine Rücksicht nehmende Zerteilung des Bildungsprozesses
hinaus.
These 2:
Der Mathematikunterricht ist wie jeder Unterricht dem Prinzip der
Beziehungshaltigkeit (Relevanz für die Lebenswirklichkeit;
Kohärenz und strukturelle Transparenz) allen Lernens
unterworfen.
These 3:
Mit der strengen Mathematik als einem „in sich selbst
ruhenden System von Begriffen und ihren gegenseitigen
Beziehungen“
[Helge Lenné, Analyse der Mathematikdidaktik in Deutschland.
Klett, Stuttgart 1969. S. 69.]
ist der fachliche Hintergrund des Mathematikunterrichts nicht
kongruent. Vielmehr sind die geistigen Prozesse, mit
denen Mathematik generiert wird, der fachliche Hintergrund und
damit die didaktische Grundlage des Mathematikunterrichts.
Die Frage nach der Aufgabe des Mathematikunterrichts ist
anthropologisch, nicht innerfachlich zu klären. Unterricht in
Mathematik hat sich an der Frage zu orientieren, was Mathematik
für den Menschen bedeute. Was macht unser Leben aus, was
umgibt uns, hat Bedeutung für uns? Es sind dies folgende
elementare Erlebnisqualitäten:
* schön Anmutendes vs. hässlich Anmutendes
* Gerechtes vs. Ungerechtes
* aufeinander Bezogenes vs. Chaotisches
* Geregeltes vs. Willkürliches
Die einschlägigen Erlebnisse sind es, die einem Fragen
aufdrängen:
Wieso kommt mir das so vor? Wie ist das eigentlich? Unter welchen
Bedingungen ist das so? Wie ist das entstanden oder begründet?
Ist das so eigentlich erwünscht? Ist es
gesetzmäßig? Wie sollte es sein? Im Konkreten haben
diese Fragen vielfach mathematischen Charakter.
Die Schüler anzuregen und sie darin zu unterstützen, die Mathematik ihrer Erfahrung und ihrer Intentionen zu entwickeln, damit ihre Erfahrung und ihre Intentionen gedanklich verdichtet und vertieft praxisbestimmend werden können - darin besteht der spezifische fundamentale Bildungsauftrag des Mathematikunterrichts.
Mathematikunterricht sollte daher primär Unterricht im
Mathematiktreiben, nicht Unterricht in Mathematik sein, ein
Durcharbeiten tatsächlich erlebter Lebenssituationen, zu dem
auch (nicht nur!) das Entwickeln desjenigen mathematischen
Spezifikums der konkreten Situation gehört, das für das
Handeln in dieser konkreten Situation von Bedeutung ist.
* Um in seiner Lebenswelt sich zurechtfinden und mit Orientierung
handeln zu können, strukturiert man sie gedanklich -: man
treibt Mathematik.
* Damit man beim Lösen von Problemen nicht immer wieder aufs
neue auf die Erfahrung mit ihren Um- und Irrwegen angewiesen ist,
macht man seine Lebenswelt „berechenbar“ -: man treibt
Mathematik.
* Dazu verschafft man sich Erkenntnisse über
Gesetzmäßigkeiten, schafft man sich Maße und
entwickelt man handhabbare Modelle -: man treibt Mathematik.
* Die mathematischen Einsichten und das mathematische
Instrumentarium müssen gedanklich „verwaltet“
werden: ihre innere Widerspruchsfreiheit muss überprüft,
ihre Ökonomie optimiert werden, und aus der Klärung ihres
Beziehungsgeflechts können neue Einsichten, Instrumente oder
Techniken gewonnen werden -: man treibt Mathematik.
These 4:
Mathematikunterricht muss schon von sich aus die Grenzen des
Facheigentlichen überschreiten.
Mathematikunterricht ist immer dann und überall dort, wo er die pragmatischen Aspekte seiner Inhalte nicht ausschließt, wo er sich also nicht auf syntaktische und semantische Sachverhalte beschränkt, zugleich auch lebenswirklichkeitsbezogener, sachkundlicher Unterricht.
Indem Mathematikunterricht mithin neben dem eigentlich Mathematischen auch Sachkunde vermittelt, überschreitet er das Mathematikspezifische. Dabei ist es didaktisch nicht unerheblich, in welcher Perspektive er das Facheigentliche mit dem Sachkundlichen verknüpft sieht: Hat das Mathematische dienende Funktion für die Sacherschließung? Oder dient das Sachkundliche nur als Anlass oder Rahmen für das Lernen von Mathematik?
Unterricht in reiner Mathematik, also ein Unterricht, der sich nur auf die Vermittlung und Entdeckung mathematischer Syntagmen, Paradigmen und Strukturen bezieht, kann in der allgemeinbildenden Schule aus verschiedenen Gründen allenfalls eine dienende Funktion haben; er kann als solcher nicht Platz greifen und nicht den Stellenwert einer thematischen Einheit haben.
These 5:
Mathematikunterricht kann die für seine Zwecke erforderlichen
Sacherschließungen nur sehr eingeschränkt leisten.
These 6:
Mathematikunterricht ist wegen der für seine Zwecke
erforderlichen Sacherschließungen auf die Zusammenarbeit
mit anderen Unterrichtsfächern angewiesen.
These 7:
Auch die anderen Unterrichtsfächer sind zur Erfüllung
ihrer Bildungsaufgaben auf Fachüberschreitung und
fächerübergreifende Zusammenarbeit angewiesen.
These 8:
Es erscheint hin und wieder günstig, die Arbeit der
Unterrichtsfächer so eng miteinander zu verknüpfen,
dass Fachgrenzen zeitweise bedeutungslos sind.
These 9:
In jedem Fall, auch im Falle des Gesamtunterrichts (siehe
These 8), gilt es zu beachten:
* Sowohl die Mathematisierung (mathematische Modellierung) von
Wirklichkeitsbereichen
* als auch die psychologisch erforderliche Durcharbeitung der
erlernten mathematischen Sachverhalte
* als auch die Übung im Transfer (didaktische Modellierung)
der erlernten mathematischen Sachverhalte
erfordern
→ einen spezifischen Unterricht, nämlich
Mathematikunterricht,
→ unter Führung eines dafür kompetenten Lehrers,
nämlich eines Mathematiklehrers.
These 10:
Das in These 9 über die Bedeutung des Fachspezifischen Gesagte
gilt entsprechend auch für die anderen
Unterrichtsfächer.
These 11:
Wegen der (in den Thesen 9 und 10 angeführten)
erforderlichen fächerspezifischen Durchdringungen der
thematisierten Sachbereiche wäre es falsch, die (in den
Thesen 6 bis 8 postulierte) Zusammenarbeit der
Unterrichtsfächer zu einem die Fächergrenzen
grundsätzlich auflösenden neuen didaktischen Paradigma zu
erheben. Daher bleibt (zunächst) die Frage noch offen,
wie dem Prinzip der Beziehungshaltigkeit allen Lernens
(siehe These 2) gegen die lebensfremde und bildungswidrige
Isolation der Schulfächer zum Durchbruch verholfen werden
kann.
These 12:
Die Möglichkeiten, das Lehren von Mathematik in eine
umfassende Bildungsarbeit der Schule zu integrieren,
können und sollten im Mathematikunterricht selbst, also auch
wenn ein Zusammenwirken der Unterrichtsfächer nicht
organisiert ist, zum Tragen kommen; sie sollten gegen die
vorherrschenden stoffdidaktischen Tendenzen durchgesetzt und
durchgehalten werden.
Auch im Mathematikunterricht ...
... haben die Lernenden Anspruch darauf, dass ihnen das zu Lernende hinreichend viel bedeutet
→ Prinzipien der Kindgemäßheit und der Gegenwartsbedeutung;
... haben die Lernenden Anspruch darauf, dass ihnen möglich ist, ihre jeweils bereits vorhandenen Fähigkeiten zur Anwendung und zur Entfaltung zu bringen
→ Prinzip des aktiven Erarbeitens;
... haben die Lernenden Anspruch darauf, dass sie ihren aktuellen individuellen Lernvoraussetzungen entsprechend gefordert und gefördert werden, und zwar ohne Fixierung auf diesen aktuellen individuellen Stand und ohne festgeschriebene Aussonderung
→ Prinzip der integrierten Differenzierung;
... haben die Lernenden Anspruch darauf, dass ihre personale Ganzheit und soziale Einbindung respektiert wird
→ Prinzip der Orientierung am Lernenden als Subjekt und Prinzip des sozialen Lernens.
Die zentralen Fragen, von denen man sich bei der Vorbereitung
und Durchführung seines Unterrichts unter dem Aspekt der
Kindgemäßheit leiten lässt, zielen nicht nur
darauf, eine optimale Passung von „sachstrukturellem
Entwicklungsstand“
[So Heckhausens in schlechtem Deutsch geprägte Bezeichnung
für den Entwicklungsstand, auf Grund dessen ein Lernender
befähigt oder noch nicht befähigt ist, eine bestimmte
Sachstruktur zu erschließen. (Heckhausen,
Heinz:Förderung der Lernmotivierung und der intellektuellen
Tüchtigkeiten. In: Roth, Heinrich (Hrsg.): Begabung und
Lernen. Klett, Stuttgart 1969. S. 193-228.)]
der Lernenden und Schwierigkeitsgrad der Lernaufgabe zu erreichen,
oder darauf, das Lernen durch eine geeignete methodische
Zergliederung des Unterrichtsgegenstands zu erleichtern und durch
eine dramaturgisch geschickte Unterrichtsgestaltung zu stimulieren.
Entscheidend ist, in welchem Maße es gelingt,
a) die persönlichen Bezüge des Kindes zu den Phänomenen, sein Interesse, seine Sinnfragen und
b) die gesellschaftlichen Bedingungen heutiger Kindheit zu berücksichtigen.
Nun könnte man fragen:
Wenn den Ansprüchen der Lernenden entsprochen wird - wo bleibt
da der Anspruch der Sache?
Wie steht es im kindgemäßen Unterricht um die
Sachgemäßheit?
Kommt bei einer Orientierung am Prinzip der Gegenwartsbedeutung
nicht die Zukunftsbedeutung des Mathematiklernens zu
kurz?
Muss den Lernenden nicht zugemutet werden, vieles im Hinblick auf
Optionen zu erlernen, deren Relevanz sich zwar erst im Laufe des
weiteren Bildungsganges und Lebensweges herausstellt, die aber
dennoch zu eröffnen sind?
Müssen Lehrende und Lernende nicht vor diesem Hintergrund die
Systematik des fachlichen Lehrplans als das eigentlich
Sinnstiftend-Vermittelnde zwischen Mathematik und Lernendem ansehen
und akzeptieren?
Setzt sich ein Unterricht, der die Schüler die grundlegenden
Begriffe und Verfahren aktiv erarbeiten lässt, nicht
unverantwortlich über die Notwendigkeit hinweg, ein Pensum zu
schaffen, auf dem in nachfolgenden Schuljahren aufgebaut werden
kann?
Die Notwendigkeit der Differenzierung sei unbestritten; aber ergibt
sich nicht die effektivste und dem Lehrer auch am ehesten zumutbare
Differenzierung, wenn durch sorgfältige selektive
Maßnahmen für leistungshomogene Lerngruppen gesorgt wird
(dreigliedriges Schulsystem, Versetzungsentscheidung,
Leistungskurs-System)?
Verliert sich soziales Lernen nicht in unverbindliches
Miteinander-Spaß-Haben?
Wenn die Lernenden als Subjekte des Unterrichtsprozesses angesehen
werden, wird dann das Mathematiklernen nicht zur Nebensache, die
sich bestenfalls zufällig oder gelegentlich ereignet ? Wo
bleibt das Leistungsprinzip?
Der alltägliche Mathematikunterricht ist „stärker von den Prinzipien der zweckgebundenen Tradierung geprägt, als ihm viele Didaktiker zubilligen.“ „Dieses didaktische Grundmodell zweckgebundener Tradierung besitzt [...] eine innere Dynamik, die die Voraussetzungen des Modells ins Gegenteil verkehrt. Bestimmt der Zweck zunächst die Art der Aufgabenstellungen und damit die Auswahl der zu erlernenden Lösungsverfahren, so tritt er, gerade weil er als gegeben vorausgesetzt wird und es allein auf die Vermittlung der Verfahren ankommt, im Vollzug der didaktischen Vermittlung völlig in den Hintergrund. Die Aufgaben bestimmen nicht mehr die Mittel zu ihrer Lösung, sondern die zu erarbeitenden Mittel bestimmen unter didaktischen Gesichtspunkten die Art der Aufgabenstellungen. Diese beziehen sich zwar auf die Anwendungsmöglichkeiten der zu erlernenden Lösungsverfahren, aber sie sind nicht von der Komplexität realer Verhältnisse geprägt, sondern der Bezug der Aufgabenstellungen auf die Anwendungen dient nur der ¸Einkleidung‘ der aus realen Problemlösungen isolierten, speziellen Lösungsverfahren. Die Typisierung der Aufgaben folgt der Logik der Mittel zu ihrer Lösung und nicht der Logik der Gegenstände, auf die diese Mittel angewendet werden.“ [Damerow, Peter, a.a.O., S.19.]
„- Die hierarchische Strukturierung des mathematischen
Curriculums (Lernstoffe bauen aufeinander auf) verschärft das
(prinzipiell in anderen Fächern auch bestehende) Problem der
Stoffülle;
- in Verbindung mit dem Zwang zur regelmäßigen
Leistungskontrolle führt das dazu, dass - unter
Vernachlässigung der problemhaltigen Aspekte des Stoffs -
bevorzugt mechanisch lösbare (und damit einfach zu bewertende)
Aufgaben behandelt werden.
- Angesichts einer solchen Stoffstruktur ist aber eine weitgehend
rezeptive Lernhaltung für die Schüler am
funktionalsten.
Einwegkommunikation und individuelle Übung scheinen zur
Bewältigung des Stoffs angemessener als Problem-Diskussionen
und Gruppenarbeit.
- Wenn Anwendungsbeispiele (Textaufgaben) auf außerschulische
Realität Bezug nehmen, wird diese auf den zu übenden
mathematischen Stoff hin zurechtgestutzt, bleibt letztlich
austauschbar und zudem von den außerschulischen
Alltagserfahrungen der Schüler meist abgespalten.
- Im Gegensatz zu anderen Fächern haben deshalb die
Schüler kaum Chancen, ihre Erfahrungen zum Bezugspunkt des
Unterrichts werden zu lassen; entsprechend gering ist die
Möglichkeit der Schüler zur Einflussnahme auf den
Unterricht. So scheint ¸die gegenwärtige Struktur des
Mathematikunterrichts definierbar als Institutionalisierung eines
intellektuellen Minderwertigkeitskomplexes‘.“
[Heymann, Hans Werner: Mathematikunterricht als schulischer Alltag
- neuere fachdidaktische Forschungsansätze vor dem Hintergrund
der Alltagsorientierung in der Erziehungswissenschaft. In: Heymann,
Hans Werner (Hrsg.): Mathematikdidaktik zwischen Tradition und
neuen Impulsen. Aulis, Köln, 1984. S. 97 f.]
„Stoffdidaktik“: „die Beschäftigung mit Einzelstoffen eines vorliegenden oder als erstrebenswert angesehenen schulischen Stoffkanons unter den Gesichtspunkten der (überwiegend mathematischen) Analyse, Ausarbeitung, Umstrukturierung, Elementarisierung oder Veranschaulichung. Reflexionen hingegen der gesellschaftlichen, individuellen und pädagogischen Bedingungen und Ziele mathematischen Unterrichts fließen in solche Arbeiten selten [...] ein.“ [Derselbe: Einleitung. Ebd., S. 1.]
„Versuche, Mathematikunterricht ohne Berücksichtigung solcher außerhalb seiner Stoffvermittlungsaufgabe angesiedelten Rahmenbedingungen zu verbessern,“ waren „zum Scheitern verurteilt [...] Als Beleg könnte man [...] auf die Geschichte der großen Curriculum-Projekte in den USA [...] oder der hiesigen ¸Mengenlehre‘-Reform [...] verweisen.“ [ Ebd., S. 2.]
Wo sich mathematikdidaktische Reflexionen auf Einzelfragen konzentrieren, sollen sie „umfassendere Wechselbeziehungen“ nicht reduktionistisch ausblenden, sondern sichtbar machen. [Vgl. ebd., S. 4.]
These 13:
Bevor er unter Hinweis auf Zeitmangel die Beteiligung des
Mathematikunterrichts an umfassenden Bildungsaufgaben
zurückweist oder zurechtstutzt, sollte der Mathematiklehrer
die Unterrichtspotentiale freisetzen, die von ökonomisch
zweifelhaften Elementen seiner Unterrichtsgestaltung
verschüttet sind.
Solche ökonomisch zweifelhaften Elemente der
Unterrichtsgestaltung sind namentlich:
* disziplinierende statt motivierende
Unterrichtsführung
[Die Kinder sollen sich einem lehrer- und anforderungszentrierten
Unterricht anpassen: Sie sollen ihre subjektiven Rahmungen und
Konzepte, die sie an die Behandlung der jeweiligen mathematischen
Themen möglicherweise knüpfen, als irrelevant und
ineffektiv zurückstellen. Sie sollen im Sinne angeleiteten
Denkens „dem Unterricht folgen“, „das
Unterrichtsgeschehen verfolgen“];
* Mangel an Transparenz der thematischen Pragmatik;
* Kargheit der didaktischen Modellierung des mathematischen
Sachverhalts;
* Erzeugung einer passiven Grundhaltung durch unzureichende
Offenheit des Unterrichtskonzepts für eine echte Teilhabe der
Schüler an der thematischen und methodischen
Unterrichtsarbeit;
* am Verständnis der Schüler vorbeigehende Vollstreckung
des Unterrichtskonzepts („was die Schüler nicht
verstanden haben, können sie durch intensives Üben
lernen“);
* ineffektive Übungsformen („Rechenkönige“
ermitteln, „Wanderrechnen“) und mechanismenzentrierte
Übungsinhalte;
* rituelle Abfragen und solistische Anforderungsformen;
* ineffektive Weisen der Abgleichung von Arbeitsergebnissen.
These 14:
Die in einer Klasse unterrichtenden Lehrer können ihre
Unterrichtsvorhaben auf Möglichkeiten einer Zusammenarbeit im
Sinne fächerübergreifenden Unterrichts abklopfen, indem
sie sie in einen tabellarischen Klassen-Jahresarbeitsplan
eintragen. Dabei könnte sich herausstellen, dass der
Jahreslauf, das Schulleben und besondere Klassenveranstaltungen,
aber auch bestimmte Unterrichtsthemen des einen oder anderen Faches
eine mehr oder weniger dichte Zusammenführung der Arbeit
einzelner, vielleicht auch aller Fächer nahelegen. Diese
Kristallisationskerne der fächerübergreifenden
Zusammenarbeit könnten durch zeitliche und inhaltliche
Verlagerungen in den Fach-Arbeitsplänen zu echten Rahmenthemen
des Unterrichts in der betreffenden Klasse werden.
These 15:
Mit einer Unterrichtskonzeption, in der die Aufgaben der einzelnen
Fächer für die Bildung der Schüler ernstgenommen
(Thesen 3, 4, 12 und 13) und in einem durch Rahmenthemen
strukturierten Klassen-Jahresarbeitsplan weitgehend
zusammengeführt (These 14) sind, kann das Prinzip der
Beziehungshaltigkeit (Relevanz für die Lebenswirklichkeit;
Kohärenz und strukturelle Transparenz) gegen die
isolationistischen Tendenzen des gefächerten Schulunterrichts
durchgesetzt werden.
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Hinweis:
Zum Verhältnis von Kindorientierung und Fachorientierung und zur Frage der Fächer, Lernbereiche und übergreifenden Aufgabenfeldern siehe auch:
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Kessen, William: Unterrichtsstrategie. In: Jerome S. Bruner (Hrsg.): Lernen, Motivation und Curriculum (‘Learning About Learning - A Conference Report'). Frankfurt am Main: Athenäum Fischer, 1974. S. 107-113. (Vom fachwissenschaftlichen System zur Unterrichtsreihe.)
Da in der Schulentwicklung, wie sie insbesondere in Hessen
bildungspolitisch durchgesetzt worden ist, der Einfluß
Wolfgang Klakis unverkennbar ist, sollte zum Konzept der
Allgemeinbildung auch gelesen werden:
Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik.
Weinheim: Beltz 1996 (5. Auflage).
Daneben sollte auch gelesen werden, wie Hermann Giesecke sich
kritisch mit den Grundsätzen des Klafkischen
Allgemeinbildungskonzepts auseinandersetzt:
Giesecke, Hermann: Was ist ein „Schlüsselproblem“?
Anmerkungen zu Wolfgang Klafkis „neuem
Allgemeinbildungskonzept“. In: Neue Sammlung, 37. Jg.,
H. 4, Oktober/November/Dezember 1997, S. 563-584.
Gerhart Dieter Greiß
Ausbilder am Studienseminar
für die Lehrämter in Korbach