These 1: Der gefächerte Schulunterricht läuft in der Praxis im allgemeinen auf eine
lebensfremde, unfruchtbare und auf Menschen keine Rücksicht nehmende Zerteilung des Bildungsprozesses hinaus.
These 2: Der Mathematikunterricht ist wie jeder Unterricht dem Prinzip der Beziehungshaltigkeit (Relevanz für die Lebenswirklichkeit; Kohärenz und strukturelle Transparenz) allen Lernens
unterworfen.
These 3: Mit der strengen Mathematik als
einem „in sich selbst ruhenden System von
Begriffen und ihren gegenseitigen Beziehungen“ [Helge Lenné, Analyse der Mathematikdidaktik in Deutschland. Klett, Stuttgart 1969. S. 69.]
ist der fachliche Hintergrund des
Mathematikunterrichts nicht kongruent.
Vielmehr sind die geistigen Prozesse, mit denen Mathematik generiert wird, der fachliche Hintergrund und damit die didaktische Grundlage des Mathematikunterrichts.
These 4: Mathematikunterricht muss schon von sich aus die Grenzen des Facheigentlichen überschreiten.
These 5: Mathematikunterricht kann die für
seine Zwecke erforderlichen Sacherschließungen nur sehr eingeschränkt leisten.
These 6: Mathematikunterricht ist wegen der
für seine Zwecke erforderlichen
Sacherschließungen auf die Zusammenarbeit mit anderen Unterrichtsfächern angewiesen.
These 7: Auch die anderen Unterrichtsfächer
sind zur Erfüllung ihrer Bildungsaufgaben auf Fachüberschreitung und fächerübergreifende Zusammenarbeit angewiesen.
These 8: Es erscheint hin und wieder günstig, die Arbeit der Unterrichtsfächer so eng miteinander zu verknüpfen, dass Fachgrenzen zeitweise bedeutungslos sind.
These 9: In jedem Fall, auch im Falle des
Gesamtunterrichts (siehe These 8), gilt es zu
beachten:
* Sowohl die Mathematisierung (mathematische Modellierung) von Wirklichkeitsbereichen
* als auch die psychologisch erforderliche
Durcharbeitung der erlernten mathematischen Sachverhalte
* als auch die Übung im Transfer (didaktische Modellierung) der erlernten mathematischen Sachverhalte
erfordern
→ einen spezifischen Unterricht, nämlich
Mathematikunterricht,
→ unter Führung eines dafür kompetenten
Lehrers, nämlich eines Mathematiklehrers.
These 10: Das in These 9 über die Bedeutung
des Fachspezifischen Gesagte gilt entsprechend auch für die anderen Unterrichtsfächer.
These 11: Wegen der (in den Thesen 9 und 10 angeführten) erforderlichen
fächerspezifischen Durchdringungen der
thematisierten Sachbereiche wäre es falsch,
die (in den Thesen 6 bis 8 postulierte)
Zusammenarbeit der Unterrichtsfächer zu
einem die Fächergrenzen grundsätzlich
auflösenden neuen didaktischen
Paradigma zu erheben. Daher bleibt
(zunächst) die Frage noch offen, wie dem Prinzip der Beziehungshaltigkeit allen Lernens (siehe These 2) gegen die lebensfremde und bildungswidrige Isolation der Schulfächer zum Durchbruch verholfen werden kann.
These 12: Die Möglichkeiten, das Lehren von
Mathematik in eine umfassende Bildungsarbeit der Schule zu integrieren, können und sollten im Mathematikunterricht selbst, also auch wenn ein Zusammenwirken der Unterrichtsfächer nicht organisiert ist, zum Tragen kommen; sie sollten gegen die vorherrschenden stoffdidaktischen Tendenzen durchgesetzt und durchgehalten
werden.
These 13: Bevor er unter Hinweis auf
Zeitmangel die Beteiligung des
Mathematikunterrichts an umfassenden
Bildungsaufgaben zurückweist oder
zurechtstutzt, sollte der Mathematiklehrer die Unterrichtspotentiale freisetzen, die von
ökonomisch zweifelhaften Elementen seiner
Unterrichtsgestaltung verschüttet sind.
These 14: Die in einer Klasse unterrichtenden Lehrer können ihre Unterrichtsvorhaben auf Möglichkeiten einer Zusammenarbeit im Sinne fächerübergreifenden Unterrichts abklopfen,
indem sie sie in einen tabellarischen
Klassen-Jahresarbeitsplan eintragen. Dabei
könnte sich herausstellen, dass der Jahreslauf, das Schulleben und besondere
Klassenveranstaltungen, aber auch bestimmte Unterrichtsthemen des einen oder anderen Faches eine mehr oder weniger dichte Zusammenführung der Arbeit einzelner, vielleicht auch aller Fächer nahelegen. Diese Kristallisationskerne der fächerübergreifenden Zusammenarbeit könnten durch zeitliche und inhaltliche Verlagerungen in den Fach-Arbeitsplänen zu echten Rahmenthemen des Unterrichts in der betreffenden Klasse werden.
These 15: Mit einer Unterrichtskonzeption, in der die Aufgaben der einzelnen Fächer für die Bildung der Schüler ernstgenommen (Thesen 3, 4, 12 und 13) und in einem durch Rahmenthemen strukturierten Klassen-Jahresarbeitsplan weitgehend zusammengeführt (These 14) sind, kann das Prinzip der Beziehungshaltigkeit (Relevanz für die Lebenswirklichkeit; Kohärenz und strukturelle Transparenz) gegen die isolationistischen Tendenzen des gefächerten Schulunterrichts durchgesetzt werden.