Gerhart Dieter Greiß, Ausbildungsleiter am Studienseminar D-34497 Korbach
* Aufgabe des Mathematiklehrens ist weniger das Lehren (fertiger) Mathematik; vielmehr sollte es den Lernenden ermöglichen, Mathematik treiben zu lernen.
* Mathematik treiben heißt, einen außermathematischen Sachverhalt mathematisch zu modellieren (zu mathematisieren), dieses mathematische Modell auf seine Generalisierbarkeit (im Blick auf seine kontextunabhängigen Anwendungs- oder Transfermöglichkeiten) hin durchzuarbeiten und schließlich das jeweils erworbene mathematische Wissen in einen konsistenten systematischen Zusammenhang (mathematik-interne Beziehungshaltigkeit) zu bringen.
* Mathematik lernt man treiben, indem man Mathematik treibt. Daher ist der didaktische Ort des Erwerbs mathematischer Wissens- und Verfahrenselemente nicht dem Mathematiktreiben vorgelagert, sondern er liegt in dem Mathematisierungs-, Durcharbeitungs- und Systematisierungshandeln selbst. Methodisch (nicht nur, aber auch unterrichtsmethodisch) bedeutet das ein Wechselspiel
- zwischen a) kontextabhängiger und b) kontextabgehobener Betrachtung,
- zwischen a) dem Ausschöpfen der im Modell gegebenen Klärungsmöglichkeiten und b) dem Durchdenken der für die Steuerung dieses Handelns relevanten strukturellen Merkmale,
- zwischen a) (im Wagenscheinschen Sinne) exemplarischen Suchbewegungen, b) gezielter Information über dabei deutlich gewordene Fragen (auch zum Schließen hinderlicher Wissenslücken) und c) gesteuertem (auch fremdgesteuertem, sprich vom Lehrer gelenktem) Ordnen und Systematisieren neu gewonnener und aktualisierter Erfahrungen und Erkenntnisse.
* Mathematik treiben zu lernen bedarf situativer Anlässe, die dem aktuellen Interesse der Schüler entsprechen oder es wecken können, ihnen also bereits in der Gegenwart bedeutsam sind, unabhängig vom Gedanken an zukünftige Transfermöglichkeiten. Diese bedeutungsvollen (Hans Freudenthal: beziehungshaltigen) situativen Anlässe zum Treiben von Mathematik im Unterricht zu arrangieren oder zu konturieren ist Aufgabe des Mathematiklehrers.
* Mathematikunterricht sollte somit konkret (erfahrbar) mit Problemen eröffnet werden; das Lern-Ergebnis des Problemlösungsprozesses liegt a) in der Lösung des Problems und in der erkannten Transferierbarkeit dieser Problemlösung (Fortschritt der praktischen Handlungskompetenz), b) in der generalisierten Erkenntnis eines mathematischen Sachverhalts (Fortschritt des mathematischen Wissens) und c) im Zugewinn an heuristischen Fähigkeiten.
* Der Zugewinn an heuristischen Fähigkeiten sollte im Vergleich mit dem Erwerb mathematischen Wissens für mindestens gleich wichtig angesehen werden. In methodischer (auch, aber nicht nur unterrichtsmethodischer) Hinsicht folgt daraus, dass einem Problemlösungsprozess immer auch eine Rekapitulation oder inverse Rückbetrachtung seiner wesentlichen (gerade auch schwierigen) Stationen angeschlossen werden muss.
* Sachaufgaben - sofern sie die Kriterien des dargestellten didaktischen Zusammenhang erfüllen - sollten das hauptsächliche Instrument des Mathematiklehrens sein.
Dazu ein paar Postulate:
+ Der didaktische Baustein "Sachaufgabe" sollte klar abgegrenzt werden von den Inhalten des eigentlich unhaltbaren Wischiwaschi-Begriffs "Sachrechnen" (richtig wäre: Rechnen mit Größen).
14 • 500g = ? kg ist ebenso wenig eine Sachaufgabe wie so genannte eingekleidete Aufgaben. "Textaufgaben" können eine Sachaufgabe sein, sind es aber meistens nicht.
+ Die besten Sachaufgaben stellt das Leben einer unternehmungsfreudigen Klasse: Bau eines Aquariums; Beobachtung und Nachvollzug von Bauleiter-, Maurer- und Zimmermanntätigkeiten im Laufe fortschreitender Arbeiten am Schulgebäude-Anbau; Wiederherstellung der verschwundenen Startlinien auf der Aschenbahn des Schulstadions; die bei einer Wanderung aufkommende Frage, wo genau wir uns eigentlich befinden, wenn wir den Kirchturm Adorfs im SSW und den Aussiedlerhof Dehausen im W liegen sehen; die individuell zu erwartenden Kosten eines zu planenden Schullandheimaufenthaltes...
+ Die Notwendigkeit, die vom gelebten Leben veranlasste Bearbeitung derartiger Sachaufgaben zu ergänzen, auch planvoll zu ergänzen, ist unbestritten. Wesentliches Merkmal einer Sachaufgabe im oben dargestellten Sinne ist aber in jedem Falle, dass sie einen echten zum Erfahrungs- und Interessenhorizont gehörenden Lebenswirklichkeitsausschnitt wiedergibt, von dem zunächst nur eines klar ist: dass er eine Informationslücke in einem relevanten Handlungskontext enthält, also ein Handlungsproblem darstellt. Zum Schließen dieser Informationslücke muss man sich möglicherweise von seinem Schülerplatz erheben und weitere Informationen einholen, Daten erheben, ein Modell konstruieren. Daher trägt eine echte Sachaufgabe immer auch das Merkmal der Offenheit (bis hin zur Lösungsoffenheit im Sinne der Divergenz sachgerechter Lösungen).
+ Konkret:
a) Konstruierte Sachaufgaben müssen den Schüler in eine für ihn erfahrbare, bedeutsame lebenswirkliche Situation hineinführen und ihm überlassen, das darin liegende Handlungsproblem zu finden.
b) Bei der Bearbeitung der Sachaufgabe sollte dem Schüler nahegelegt und ermöglicht werden, sich das Wesentliche der problemhaltigen Situation in einem Modell zugänglich zu machen, in ein eigenständiges handlungsgeleitetes und handlungsleitendes Denken einzutreten, im Austausch mit anderen die Inhalte seines Denkens handlungsbezogen zur Sprache zu bringen, die Sachgemäßheit der gefundenen Lösung zu verifizieren und abschließend die Stationen des Problemfindungs- und -lösungsprozesses zu rekapitulieren sowie die Frage zu klären, welche Konstituenten des Problemlösungsweges bei welchen analogen Sachproblemen anwendbar sind.