Gerhart Dieter Greiß
Ausbildungsleiter am Studienseminar in Korbach

Grundschulpädagogische Fragen

„Handlungsorientierung“ - ein Schlagwort (?)

Liebe macht blind

Vieler (Grundschul-)Lehrerinnen und Lehrer Herz ist von Kopf bis Fuß auf Methode eingestellt. Das Was des Unterrichtens ist ihnen ohne weiteres hinlänglich bekannt, und die Adressaten ihres Unterrichts liegen ihnen ohnehin sehr am Herzen; bleibt als Problem nur noch zu klären, wie sie ihr Wissen auf die Kinder übertragen können. Methode muss zwei Gütekriterien erfüllen: Sie muss den Kindern Spaß1 machen, und sie muss zu einem Instrument ausgestaltet sein, mit dem die Lehrperson das Unterrichtsgeschehen unter Kontrolle halten kann. Eine Stundenplanung ist gerettet, wenn man eine tolle methodische Idee hat.  Wenn das Leben in unseren Grundschulen sichtbar blüht, hat daran die Methodenverliebtheit der Lehrerinnen einen nicht unbeträchtlichen Anteil. Die Fragen der didaktischen Analyse haben es daher nicht leicht, in aller Bescheidenheit zu einem kritischen Innehalten aufzufordern:
* die Frage nach der didaktischen Funktion der angewandten Methode:

Trägt die tolle Methode das, was den Sinn jedes Unterrichts ausmacht: die möglichst gründliche geistige Arbeit an dem jeweiligen Thema? Oder werden die Schüler nur themaorientiert beschäftigt?

und
* die Frage nach der in der Methode zum Tragen kommenden pädagogischen Grundposition und Perspektive:

Inwiefern kann eine einzelne Unterrichtsstunde dazu beitragen, dass sich die Bildungs- und Erziehungsarbeit des Lehrers Stück für Stück selbst überflüssig macht?2


Was ist eine „Handlung“?

Wir beobachten eine Schülergruppe.

Gedankenverloren trommelt Anton mit den Fingerkuppen auf die Tischfläche und klappert mit seiner Stiftemappe.

Am Fenster stehend, beobachtet Berta eine Formation ziehender Kraniche; dann wendet sie sich ihrem Schulfrühstück zu. 

Cäsar hat die Kraniche ebenfalls beobachtet, zeichnet die Formation auf einen Zettel und sucht in der Klassenbücherei nach einem Buch, dem er entnehmen kann, um welche Vögel es sich gehandelt hat. 

Dora wird gerade von ihrer Lehrerin aufgeklärt, dass und warum man „Frühstück“ mit h schreibt. 

Emil diktiert Fritz einen Text, sagt „stopp“, wenn sein Partner ein Wort falsch schreibt, überlegt mit ihm, nach welcher Regel sich die Rechtschreibung dieses Wortes richten könnte, und sieht im Zweifelsfalle mit ihm im Wörterbuch nach. 

„Handlungsorientierung“ - geht das immer?

Den meisten Lehrern leuchtet als selbstverständlich ein, dass handlungsbezogene Lernaufgaben wie „Hocke über den quergestellten Kasten“ oder „sachgerechtes Anlegen eines Radieschenbeets im Schulgarten“ kaum ohne entsprechende Handlung im Lernprozess erreicht werden können. Ganz sicher können wir unserer Kollegen darin nicht sein; beispielsweise wird die Notenlehre im Musikunterricht vielerorts immer noch so unterrichtet, als handelte es sich bei Noten nur um graphische Zeichen, die man benennen und im Liniensystem zu Papier bringen kann und können muss, die aber sonst keine Bedeutung haben (Notenlehre ohne Instrument). Wie steht es da erst mit abstrakten Sachbereichen wie „zehnerüberschreitendes Addieren“ oder „Akkusativ-Objekt“ oder „geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen“ oder „Gott hat die Menschen lieb“?

Das Leben in einer hochindustrialisierten Gesellschaft wird zunehmend von Strukturen bestimmt, die sich nur in abstrakten Systemanalysen erschließen lassen. Folgt daraus, dass die (Grund-, Haupt-, Real-, Gymnasial-)Schüler auf die strukturelle Abstraktheit der Gesellschaft vorbereitet werden müssen, indem die Lerninhalte selber auf einem entsprechenden Abstraktionsniveau bestimmt werden und konkrete Erfahrungen als nebensächlich oder aber nur als didaktisches Mittel zur Erschließung des „Wesentlichen“: des Abstrakten, anzusehen sind? 

„Handlungsorientierung“ - unterrichtstechnisches Zugeständnis an die motorischen Bedürfnisse der Kinder?

Deutschunterricht, 3. Klasse; Unterrichtsgegenstand: eine Episode der Vater-und-Sohn-Geschichten von Erich Ohser (e. o. plauen). Diese Episode soll verstanden und schließlich nacherzählt werden. Die Lehrerin hält viel von dem Prinzip der Handlungsorientierung und gibt daher den Kindern die sechs Bilder in einer vom Original abweichenden Reihenfolge vor. Die Kinder schneiden die Bilder aus, rangieren damit auf dem Tisch herum, versuchen sie in eine logische Reihenfolge zu bringen. Bevor die Bilder ins Heft geklebt werden, bespricht man im Klassengespräch die vorläufigen Lösungen. Schließlich soll der Inhalt der Bildgeschichte schriftlich erzählt werden. 

Das Schnippeln, Rangieren und Aufkleben hält die Kinder davon ab, die Erstbegegnung mit der Vater-und-Sohn-Geschichte und ihrem Humor auszukosten. Statt einer erschließenden Handlung liegt hier ein puzzlespielähnliches Hantieren vor. So manche Behandlungsform misshandelt das Menschliche in den Objekten.3

Beobachtbares In-Aktion-Sein von Kindern ist zweifellos ein notwendiges, keinesfalls aber ein hinreichendes Kriterium für handlungsorientierten Unterricht.

Handlungsorientierung ist nicht nur ein Zugeständnis an die motorischen Bedürfnisse kleiner Kinder; sie ist nicht überflüssig, sobald die Schüler aus dem Großkindalter heraus sind. 

Handlungsorientierter Unterricht ist offener Unterricht. 

Handlungsorientiertes Lernen ist kommunikatives Lernen.

Beispiel:  Handlungsorientierter Literaturunterricht

Zu einem Buch zu greifen und es zu lesen ist bereits Handeln, und es ist pädagogisch sinnvoll, Kinder zu diesem Handeln anzuregen und zu befähigen. Es ist ein sehr komplexes Handeln, zu dem wesentlich die Eigenständigkeit der Lese-Entscheidung und -arbeit, die Individualität des Lese-Erlebens und die Originalität der Wirkung und Verarbeitung des Gelesenen gehören. Ein Literaturunterricht, der sich auf Aufgaben kapriziert, die durch bloß äußerliches oder formales Tun (Ausfüllen einschlägiger Formulare, sprich Arbeitsblätter; Hantieren; andere Aktionismen) zu erledigen sind, verkennt und behindert die Individualität, Inwendigkeit und Ganzheitlichkeit des Lesens und sollte nicht als handlungsorientiert bezeichnet werden. 

Allerdings erfordert die Komplexität des Lesehandelns - je nach dem Grad der Entsprechung zwischen Lesevermögen und -motivation einerseits und Texteigenschaften andererseits - das Anwenden bestimmter Techniken und strukturierender Methoden, durch die der Gesamttext zergliedert und die überschaubaren isolierten Teile oder Aspekte durch verschiedene Verarbeitungsweisen geklärt, vertieft und ausgelebt oder aber praktiziert werden können; und es ist unbezweifelte Aufgabe des Literaturunterrichts, auch derartige förderliche prozessorientierte Handlungen zu unterstützen oder anzuregen. 

Das theoretische Dilemma zwischen der Eigendynamik und Individualität des Lesehandelns einerseits und einem methodisch umsichtig vorbereiteten Unterricht andererseits löst sich unter folgender Bedingung als ein scheinbares auf: Die Unterrichtsdurchführung muss hinreichend offen angelegt sein. Das heißt: Zum Unterrichtskonzept muss es gehören, dass die Lernenden an der Planung, Gestaltung und Aufbereitung der notwendigen und/oder spontan gewünschten prozessorientierten Handlungssituationen maßgeblich mitbeteiligt sind. Die so ein- und durchgeführten prozessorientierten Handlungssituationen können sie als integrative Bausteine für die Gesamthandlung (das Lesen des Textes) bzw. als Rahmen für die Befriedigung von Bedürfnissen ansehen, die das Gelesene nahelegt.

Die kommunikativen Prozesse, die solch schülerorientierten Unterricht kennzeichnen, gehören zusammen mit dem Gedankenaustausch über die Lese-Erwartungen, über die Lese-Erlebnisse, über die entsprechenden Eigenerfahrungen oder -anschauungen und über die Textbeurteilung wesentlich zum textbezogenen Handeln: Handlungsorientiertes Lernen ist kommunikatives Lernen. 

Handlung als Kolonialwaren-Handlung?

Wenn Handlung in anthropologischer Sicht ein Wechselspiel von absichtlichen, zweckgerichteten, von Interessen ausgehenden und von Denkprozessen gesteuerten Aktivitäten ist, mit denen das Individuum seine Welt seinen Vorstellungen gemäß verändern will oder seine Vorstellungen den in der Welt vorgefundenen Handlungserfordernissen und -bedingungen anzupassen versucht1 - was ist dann von einer Lehrprobe zu halten, in der eine zweite Klasse im Fach Mathematik mit dem Thema "Darstellung einer Relation durch das Pfeildiagramm" befasst wurde?

Die Kinder beantworten zunächst die Frage der Lehrerin nach dem Größten in der Klasse. Die Antworten fallen unterschiedlich aus; ein unmittelbarer Größenvergleich stellt den Sachverhalt klar. Die vor der Tafel versammelten Größten bleiben als konkrete Menge dort stehen, damit diese Menge mit der Relation "größer als" durchstrukturiert werden kann. Zur Protokollierung der Aussagen "X ist größer als Y" werden rote Papppfeile so auf den Boden gelegt, dass der Pfeilanfang zu Füßen des Schülers X liegt und die Pfeilspitze auf die Füße des Schülers Y zeigt. Anschließend wird die Situation an der Tafel skizziert: Die Lehrerin zeichnet Strichmännchen, Schüler dürfen die Pfeile einzeichnen. Schließlich erhalten die Schüler ein Arbeitsblatt, das ähnlich zu bearbeiten ist wie die Tafelskizze. Ein Vergleich der Arbeitsergebnisse steht am Schluss der Unterrichtsstunde.

Für die Lehrerin war die Frage nach dem Sinn des Pfeilelegens und Pfeilezeichnens nicht relevant. Relationsdiagramme kommen im Fach Mathematik vor und sind laut Rahmenrichtlinien im zweiten Schuljahr dran. Außerdem war es gelungen, die Kinder genau das tun und sagen zu lassen, was in der (fachlich korrekten) Planung vorgesehen war. Wie aber hätte die Lehrerin reagiert, wenn sich der eine oder andere Zweitklässler (zu Recht!) dem verschrobenen Sinn dieses Unterrichts verweigert hätte?2


Wenn man von Fachdidaktik einiges und von Kindern wenig versteht

Ist schon der Unterricht „handlungsorientiert“, der handelndes Lernen organisiert?  Folgt man der Grieselschen Größenbereichsdidaktik[1] unkritisch und kinderblind, so veranlasst man Zweitklässler zu Beginn der Unterrichtseinheit „Längen“, durch zuerst unmittelbaren, dann durch mittelbaren Längenvergleich festzustellen, ob und wie unsere Klassencouch und unser Klassenschrank durch die Tür passen. Dann müssen sie mit länglichen Gegenständen ihrer Wahl die Tischkantenlängen messen (Hintereinanderlegen mehrerer gleichlanger Faserstifte und mehrfaches Anlegen eines Stifts). Natürlich kommen die Kinder zu unterschiedlichen Ergebnissen, suchen nach dem Fehler und lassen sich zu der Erkenntnis führen, dass Längenangaben mit Zahl und Einheitslänge nur vergleichbar sind, wenn die Einheitslänge einheitlich lang gewählt ist. Daran schließt sich die Geschichte mit der Konvention der Menschen auf die Einheitsgrößen Meter und Zentimeter an. 4

Wer es schafft, dass seine Schüler ihr Verhalten in dieses Konzept einpassen, muss sich deshalb nicht freuen. Zwar lernen die Kinder, was eine Länge ist und wie man Längen misst; aber sie lernen mit, dass Mathematik selbst dort etwas Skurriles und Gestelztes („Umständliches“) ist, wo sie sich bemüht, Bedeutung für das Leben der Lernenden zu haben. Hätte man ihnen freien Raum gegeben, ein einschlägiges Problem erstens zu sehen und zur Sprache zu bringen und zweitens selbständig anzugehen, dann hätten sie unter Rückgriff auf ihr (wie auch immer lücken- und fehlerhaftes) Vorwissen und auf ihre (wie auch immer vagen) Vorerfahrungen das problematische Neue auf das in ihrem bisherigen Leben Bedeutsame projiziert, um etwas Bedeutsames für ihr künftiges Leben (das sich lückenlos anschließt und nicht erst in kommenden Schuljahren oder im Berufsleben stattfindet!) zu gewinnen.[1] Diese Kinder hätten die Didaktik des väterlichen Zollstocks oder des mütterlichen Metermaßes und nicht die der grieselsch-mathematischen Brillanz gewählt: Sie hätten als erstes den Einsatz von Messgeräten gefordert, so wie es auch im Alltagsleben üblich und sinnvoll ist. 5

Wie also muss man hervorragende fachdidaktische Bücher lesen? Die eigenen Schüler vor Augen kritisch und kreativ! 

„Handlungsorientierter“ Unterricht ist auf die vorhandene und zur Entfaltung zu bringende Handlungsfähigkeit der Schüler hin orientiert. Das Handeln in einem handlungsorientierten Unterricht ist ein didaktisch notwendiges Mittel für das Erlernen von Techniken, Begriffen, Zusammenhängen der Sachwirklichkeit und sozialen Verhaltensweisen, die in künftig möglichen Lebenssituationen gefragt sein werden. Das schulisch arrangierte Handeln muss aber (auch) seinen Eigenwert in einem Zusammenhang haben, den die Kinder als Ernstfall in ihrem gegenwärtigen Leben ansehen, erleben, durchdenken, behandeln, meistern können. 

Meine Zweitklässler wollen Weitspringen für die Bundesjugendspiele üben. „Okay“, sage ich, „dann bringt morgen etwas mit, womit ihr eure Weiten messen könnt.“ Heute machen wir uns schon mal klar, was man beim Weitsprung alles beachten muss (Anlauf, Absprungsbereich, Absprungsgeschwindkeit, Absprungskraft, Absprungswinkel, geschicktes Verhalten bei der Landung). Das hat die Sportlehrerin schon alles mit den Kindern geklärt und geübt; aber mit der Umsetzung hapert es noch gewaltig. Wir schieben den Sandkastenwagen vom Flur in unser Zimmer und schaffen uns ein Modell für die Sprunggrube und für die Anlaufbahn. Playmobil- oder auch Barbie-Puppen sind wie immer vorhanden; sie müssen jetzt in Zeitlupe zeigen, wie man es richtig macht, aber auch wie man es falsch macht. Die Sache mit dem Absprungswinkel machen wir uns klar, indem wir alle (!) im Flur Schlusssprünge mit flachem, mittlerem und extrem steilem Absprungswinkel ausprobieren. Die Fugenlinien zwischen den quadratischen Fliesen dienen uns als Maßlinien; man hört Feststellungen wie „Du hast nur zwei Fliesen geschafft? Ich habe eben drei Fliesen und noch ein bisschen geschafft“. Einer organisiert Kreide, um den Sprungweitenvergleich ganz exakt durchführen zu können. Ein anderer kommt mit dem Meter-Lineal aus der Klasse wieder, legt es an der Absprungslinie an und kräht etwas von „6!“, „5 und 3 Striche!“. Unsere Erkenntnis, dass ein mittlerer Absprungswinkel am günstigsten6 ist, machen wir uns nochmals mit Hilfe einer Playmobilfigur im Sandkastenwagen klar, und auch, was man eigentlich messen muss (wir wollen vom vordersten Absprungspunkt bis zum hintersten Landepunkt messen). - Als ich am nächsten Tag in die Klasse komme, haben viele Kinder angefangen, Klassenkameraden, den Klassenraum, das Meterlineal oder die Bücherreihen im Klassenbücherei-Regal mit einem Zollstock aus Vaters Werkstatt, einem Messband aus Mutters Nähkasten oder mit einem mehrere Meter langen Maßband mit Aufwickelautomatik zu vermessen. Zahlen schwirren durch die Luft. Zwei machen Schlusssprünge, messen die Weiten und schreiben sie auf einen Zettel. Einer hat Striche an die Tafel gezeichnet und will nun, dass ein anderer sie misst. Ein paar Kinder sind auf sich sauer, weil sie vergessen haben, zu Hause einen Zollstock zu organisieren, und nun auf ihr viel zu kurzes Lineal angewiesen sind. Ihnen will ich helfen, aber nicht zu weitgehend (meine irgendwann für 99 Pf je Stück erworbenen 150 cm langen Metermaße lasse ich in der Tasche). Ich drücke ihnen ein Knäuel Paketgarn in die Hand. Das macht sie nicht heiterer: „Da fehlen ja die Striche!“ „Dann macht euch doch welche“, sage ich und wende mich anderen zu, die angefangen haben, ihre Püppchen im Sandkasten springen zu lassen und die Sprungweiten zu messen. Als ich zu den Kindern mit dem Paketgarn schaue, scheinen sie noch saurer als vorher zu sein, denn soeben hat jemand mit seinem Zollstock nachgemessen, ob die Fasermalerstriche richtig gesetzt sind. Die falschen Striche werden mit Rot ungültig gemacht, und schließlich sind auch die Messgarne geeicht. - Die Stunde ist zu Ende. In der Pause sieht man meine Schüler auf dem Schulhof mit ihren Maßbändern im Schlepp oder mit ihren Zollstöcken schwingend herumlaufen; zwei messen die Länge des Weges zu den Toiletten. Ein Mädchen will feststellen, wie hoch das Klettergerüst ist; das klappt erst, als ihr ein anderes Kind hilft, mit einem Finger den Punkt festzuhalten, an dem der Zollstock wieder anzulegen ist. - In der nächsten Stunde kommen wir auf unser sportliches Anliegen zurück und führen unsere Weitsprungversuche durch. Die Messungen werden partnerschaftlich durchgeführt; die Weiten werden auf einem Zettel notiert. Einem Mädchen fällt auf, dass manche Kinder ganz falsch messen: Die fangen bei der 1 an, müssten aber doch bei der 0 anfangen - sonst hätte man ja schon einen Zentimeter gesprungen, wenn man genau an der Stelle wieder landet, wo man abgesprungen ist. Ein Junge will nicht gelten lassen, dass er nur 2 Zentimeter weit gesprungen sein soll, und nachdem er den für die Messung Verantwortlichen klargemacht hat, dass sie das Maßband nicht verdrehen (verdrillen) dürfen, steht zu seiner Beruhigung und Zufriedenheit die Weite 148 Zentimeter fest. - Im Klassenzimmer haben wir gerade noch Zeit, dass jeder seine gemessenen Sprungweiten ordentlich ins Heft schreibt. Zu Hause wollen die Kinder weiterüben, um ihre Weiten zu verbessern. Beim nächsten Mal werde ich die Kinder ihre besten Sprungweiten sicht- und vergleichbar machen lassen, indem sie ebenso lange Streifen aus Tapetenresten herstellen, beschriften und nebeneinander unter einer vorgegebenen „Absprungslinie“ an den Fenstern befestigen. Im weiteren Verlauf der Unterrichtsreihe wird der Begriff „Längeneinheit“ auszuschärfen sein (nicht die Einteilungsstriche auf dem Maßstab oder Maßband sind zu zählen, sondern die Abschnitte); außerdem muss das Verhältnis zwischen Zentimetern und Metern genauer untersucht werden. 

Der Mathematikunterricht muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden:

Die didaktisch-psychologische Frage, inwiefern ein Handlungszusammenhang eine Funktion für das Mathematiklernen habe, ist sinnvoll erst dann zu stellen, wenn die vorrangige pädagogische Frage geklärt ist, inwiefern ein mathematischer Sachverhalt eine Funktion für Handlungszusammenhänge hat. 

Es gilt, Erfahrungsfelder zu identifizieren, in denen mathematische Verfahren tatsächlich für die Aufklärung und Bearbeitung eines Sachverhalts notwendig werden. [...]

„Der >Wirklichkeitsbezug< im Mathematikunterricht der Grundschule besteht im allgemeinen darin, dass die Erfahrungswelt der Kinder allenfalls zu abstrakten Strukturierungsübungen herangezogen wird, ohne zu berücksichtigen, ob die Kinder dadurch eine wirkliche Aufklärung über ihre Welt erfahren. Vielmehr handelt es sich meist um inhaltlich unangemessene Formalisierungen oder gar um Entstellungen der Wirklichkeit.“ (S. Schütte, 1989) 

Die für die Arbeit mit didaktischem Material vorgeschlagenen Phasenfolgen nach dem Prinzip „vom freien zum strukturierten Spiel“ und „vom Handeln über die Anschauung zum Denken“ (Z. P. Dienes) bringen es mit sich, dass die Kinder ihre konkreten kreativen Gestaltungsideen und ihren Erlebnisbezug immer wieder gegenüber abstrakten Ordnungsideen und Sachverhalten zurückdrängen müssen. 

Das kann den Kindern nicht verborgen bleiben. Mathematikunterricht trägt tüchtig zur schulspezifischen (und gesellschaftstypischen?) Sozialisation der Kinder bei, deren Kennzeichen die Gewöhnung an den funktionalistischen Charakter alles zu Lernenden und aller Lernweisen ist und - was noch schlimmer ist: die Gewöhnung an die funktionalistische Entfremdung aller Motive und Lebensbezüge. Mathematiklehrer müssen aufhören, sich unter der (wenig widersprochenen) Schutzbehauptung alle möglichen didaktischen Kümmerlichkeiten zu erlauben, die Mathematik sei erstens außerordentlich wichtig, zweitens sowieso nicht zum Anfassen da und drittens ein so umfassendes System von seit Menschengedenken[1] und auf ewig festliegenden Abstraktionen und Verfahren[1], dass man erstens auf ein lebensnahes Mathematiklernen 7/8 nur unter Umständen rekurrieren müsse und man zweitens ausgesprochen wenig Zeit für lebensnahen Unterricht habe. 

Didaktische Perspektiven (Sybille Schütte[1]):9

a) Primat des Kindes (anstelle des Primats der Wissenschaft), 

b) Mathematisieren als Prozess (anstelle einer starren Stoffstruktur), 

c) sachinhaltliche Einbettung mathematischer Inhalte (anstelle von „Anwendung“ und „Veranschaulichungen“),

d) Thematisierung von Möglichkeiten und Grenzen mathematischen Handelns in bezug auf die Ausbildung des kindlichen 

Weltverständnisses,

e) methodische Öffnung des Unterrichts in Richtung auf einen individualisierenden offenen Unterricht. 

„Didaktische Reduktion“[1] ist nicht einfach die Rückführung eines Begriffs oder Sachverhalts auf eine diesem Begriff oder Sachverhalt zugrundeliegende Handlung, sondern die Rückführung eines Begriffs oder Sachverhalts auf eine diesem Begriff oder Sachverhalt zugrundeliegende Handlung, die den Kindern naheliegt: am Herzen liegt, unter den Nägeln brennt, in den Fingern juckt, ein abenteuerliches oder versponnenes Spiel (probeweises Verändern, erkundendes Sich-Einlassen) mit der Realität ist. 10

Als Kognitionsoperatoren, die zwischen einem Ausgangsproblem und einer Sachverhaltserkenntnis vermitteln, sind die Strategien anzusehen, die die Schüler in handelnd durchdachten, durchgearbeiteten Problemlösungsprozessen haben entwickeln können. Dabei kommt es entscheidend darauf an, die Lernenden nicht auf der Stufe des bloßen Tuns und Erfahrens stehen zu lassen, sondern sie - nach erstem erfahrungsgebundenem Vertrautwerden mit der Sachumgebung - im Vorausbedenken und durchdachten Optimieren und Modifizieren ihres Tuns zu unterstützen. 

Das Denken ergibt sich nicht ohne weiteres aus dem Tun. Ein kognitionspsychologisch relevanter Handlungsbegriff hat den Wechselbezug zwischen Denken und Tun zum Inhalt. Die instrumentelle Bedeutung des Denkens für die intelligente Steuerung von Praxis ist nicht nur Ergebnis, sondern bereits wesentlicher Bestandteil eines jeden kognitiven Lernprozesses. Es wäre sachlich falsch, Erfahrung mit Anschauung und Denken mit Erfahrungswissen gleichzusetzen und die Prozesse des induktiven Lernens auf das Kumulieren von Erfahrung zu verkürzen. Vielmehr entwickelt sich das Denken, indem es beim Tun für das Tun beansprucht wird. Dieser kognitionspsychologische Sachverhalt muss im Unterricht zum Tragen kommen und daher schon bei der Unterrichtsvorbereitung berücksichtigt werden. 

Handlung ist in anthropologischer Sicht ein Wechselspiel von absichtlichen, zweckgerichteten, von Interessen ausgehenden und von Denkprozessen gesteuerten Aktivitäten, mit denen das Individuum seine Welt seinen Vorstellungen gemäß verändern will oder seine Vorstellungen den in der Welt vorgefundenen Handlungserfordernissen und -bedingungen anzupassen versucht, ein Wechselspiel, in dem der einzelne als seiner selbst Bewusster und sich als Ganzes Bewahrender mit sich und mit Welt auseinandersetzt. 

Handeln in konkreten Situationen und Umgang mit konkretem Material soll den Kindern Erfahrungen ermöglichen und sie in die Lage versetzen, Vermutungen über regelhafte Beziehungen vorzutragen und zu begründen. Diese Schülerbeiträge bieten Anlässe und Anstöße zum genaueren, systematischen Durchdringen des Sachzusammenhangs. An die Stelle vorläufiger Sachverhaltsvermutungen können dann begründete und gesicherte Regelerkenntnisse treten. Feststellungen einzelner Schüler, die auf einen Lernprozess schließen lassen konnten, gewährleisten noch keinesfalls, dass auch die anderen Schüler den zur Sprache gekommenen Sachverhalt zuvor oder jetzt durch Rezeption jener Äußerungen erfassen können.


1Vgl. Postman, Neil (dt.: Reinhard Kaiser): Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1988 (1985), Kapitel „Unterricht als Unterhaltung“. Siehe insbesondere S. 181.

2 Die „Eigenstruktur der Erziehung“ (H. Blankertz) arbeiteten bereits Jean Jacques Rousseau und Immanuel Kant

3 „Die menschliche Seite des Gegenstandes aufzuschließen, ist so recht die Aufgabe der Menschlichkeit des Lehrers. Vergessen wir doch nicht, dass diese menschliche Seite am Kulturgut oft ein Schlüssel zu seinem eigentlichen Wesen ist.“ Roth, Heinrich: Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens. Schroedel, Hannover, (1957) ²1970. S. 113.

4Griesel, Heinz: Neue Mathematik für Lehrer und Studenten. Schroedel, Hannover. Ein nichtsdestoweniger sehr empfehlenswertes dreibändiges Lehrwerk für Mathematikdidaktik!

5 „Die Probleme sollen möglichst aus dem Alltag der Kinder emporwachsen, aus ihm auch die Anstöße, von denen das Suchen ausgeht und gelenkt wird.“ Copei, Friedrich: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozeß. Quelle & Meyer, Heidelberg (1930) 1955. S. 103.

6 Für mathematisch Interessierte: Die Wurfbahn ist bei Vernachlässigung des Luftwiderstands eine Parabel, deren Parameter die Anfangsgeschwindigkeit v0 und der Wurfwinkel  a sind. Da für die Wurfweite xw gilt: xw = (v0² sin2a)/g, ist xw für eine gegebene Geschwindigkeit v0 am größten, wenn a = 45° ist (sin90° = 1).

7 „Die Mathematik ist von den frühesten Zeiten her, wohin die Geschichte der menschlichen Vernunft reicht,... den sicheren Weg einer Wissenschaft gegangen. Allein man darf nicht denken, dass es ihr so leicht geworden, wie die Logik, wo die Vernunft es nur mit sich zu tun hat, jenen königlichen Weg zu treffen, oder vielmehr sich selbst zu bahnen; vielmehr glaube ich, dass es lange mit ihr beim Herumtappen geblieben ist...“ Immanuel Kant: Die Kritik der reinen theoretischen Vernunft (1781). Zitiert nach der von Raymund Schmidt herausgegebenen Ausgabe: Immanuel Kant: Die drei Kritiken, Kröner, Leipzig, 1933, S. 82.

8 Eine Sache ist es, uns „entweder in das Gedächtnis oder in den Verstand dasjenige einzudrücken, was als eine schon fertige Disziplin uns vorgelegt werden kann“. Eine andere Sache ist es, „die Verstandesfähigkeit der anvertrauten Jugend zu erweitern und sie zur künftig reifern eigenen Einsicht auszubilden“. Immanuel Kant: Vom Wesen und der Aufgabe der Philosophie. Zitiert nach der von Raymund Schmidt herausgegebenen Ausgabe: Immanuel Kant: Die drei Kritiken, Kröner, Leipzig, 1933, S. 69.

9 Schütte, Sybille: Mathematisches Lernen und grundschulpädagogische Ziele zum Ende der 80er Jahre. In: Sachunterricht und Mathematik in der Primarstufe 17 (1988) Nr. 2, S. 86-90.

10 Der Terminus „didaktische Reduktion“ wird in küchendidaktischem Sprachgebrauch zur „Beschränkung der Lernstoffmenge aus Rücksicht auf die begrenzte Aufnahme-, Verarbeitungs- und Behaltenskapazität der Lernenden“ verharmlost. Man spricht ja auch davon, dass man als Kraftfahrer Kindern zuliebe in Schulnähe die Geschwindigkeit reduzieren soll (to reduce one's speed). Aber so einfach liegen die Dinge um die erziehungswissenschaftlichen Begriffe nicht. Der Reduktionsbegriff der Didaktik hat wenig mit dem Reduktionsbegriff des Straßenverkehrs zu tun, eher etwas mit dem Reduktionsbegriff der Chemie: 2H2O + Energie → 2H2 + O2 als Elementarisierung, wobei die Elemente ein höheres Energiepotential haben (Vorsicht, Knallgas!) und nicht etwa atomar oder gar in isolierte Kernteilchen zerspalten daherkommen. Wer diesen laienhaften chemischen Assoziationen nicht über den Weg traut, lese seinen Heinrich Roth, Martin Wagenschein und Hans Aebli oder, was auch nicht schaden kann, ein Kompendium über Wissenschaftstheorie, um seinen Reduktionsbegriff an unseren Bezugswissenschaften zu orientieren.