Grundschulpädagogische Fragen

Was am Unterricht war verschlossen, wenn er geöffnet wird?

Geöffnet werden kann nur, was verschlossen ist. Was ist verschlossener oder geschlossener Unterricht? Wie wirkt er sich aus? Was ist seine Stärke? Worin bleibt er den Lernenden, den Lehrenden und der Gesellschaft etwas schuldig?

Wir alle kennen die Musterlektion zum Thema „Magnetismus“ im Sachunterricht des 2. Schuljahres. Curriculare Fertigware tradiert sich hartnäckig überallhin und allezeit, wo und wann Lehrer sich nur bescheidenes didaktisches Nachdenken zumuten und ihren Schülern nur beschränkte geistige Aktivität zutrauen.

Der einschlägige CVK-Experimentierkasten steht bereit, aber die Lehrerin will die Kinder zunächst mit einem „motivierenden“ „Einstieg“ „einstimmen“. Die Klasse wird im Dreiviertelkreis um das kommerzielle „Angelspiel“ versammelt. Nacheinander halten die Kinder eine „Angel“ in ein „Aquarium“, darin macht es „klick“, und schwuppdiwupp kann man einen Pappfisch herausangeln. Wie ist das möglich? Und jetzt wissen auch die letzten, dass es heute um Magnete geht. Aber ihr Mitteilungsdrang („Ich habe zu Hause ganz viele Magnete / einen ganz großen Magneten“, „Wir haben in der Küche eine Magnet-Pinnwand“, „Ich habe mal einen alten Lautsprecher auseinandergebaut; da blieb mein Schraubenzieher dran kleben; da steckte noch Strom drin“, „Ich habe in meiner Modell-Eisenbahn einen Kranwagen; da ist ein Seil mit einem Magneten dran; mit dem kann ich Schienen hochziehen und wegfahren“, ...) passt der Lehrerin nur insoweit, als ihr die Kinder damit zeigen, dass sie in den Sachbereich „Magnete“ „eingestimmt“ sind. Dem Mitgeteilten selbst verleiht sie keine didaktische Bedeutung, weder ad hoc noch später; denn sie hat vor, die Kinder mittels CVK-Kasten-Methodik zu einer von den Zufälligkeiten der Vorerfahrungen freien und von den Divergenzen der individuellen Handlungsinteressen und Lernmotive nicht belasteten gemeinsamen Wissensgrundlage zu führen. Zunächst kann sie an der Tafel festhalten (und sie meint, dies aus Gründen der Methodenorientierung des Sachunterrichts tun zu sollen): Wir wissen: Magnete können Sachen anziehen. Die Partnerschaften, in die die Klasse eingeteilt ist, erhalten die inhaltsgleichen Materialbeutelchen mit Büroklammern, Nägeln, Korken, Baumwollfäden, Glaskugeln usw., aber noch keine Magnete. Zunächst müssen die Kinder sagen, was jetzt die Frage sein könnte (Wir fragen: Welche Sachen zieht ein Magnet an?), und vermuten (Wir vermuten), welche Gegenstände, deren Namen in eine vorbereitete Tabelle an der Tafel eingetragen sind, von einem Magneten angezogen werden und welche nicht. Jetzt werden die Magnete endlich ausgeteilt, nachdem die Lehrerin die Kinder angewiesen hat, in der Tabelle auf dem mitgelieferten Arbeitsblatt mit Kreuzen festzuhalten, ob sie im Versuch eine Wirkung bzw. Nichtwirkung des Magneten auf die einzelnen Gegenstände beobachten. Den Beginn dieser Arbeit muss die Lehrerin aber wiederholt anmahnen (einmal sogar unter Androhung, vier Kindern die beiden Magnete wieder abzunehmen), weil es die Kinder viel spannender finden, die unterschiedliche Wechselwirkung zwischen zwei Magneten (auch durch Hindernisse hindurch!) zu erforschen, Spitzer in geheimnisvolle Bewegung zu versetzen und in einen Wettstreit zu treten, wer an seinem Magneten die längste Büroklammerkette baumeln lassen kann. Diese Phänomene waren der Lehrerin zu komplex, als dass sie ihnen jetzt schon, in der ersten Stunde der Unterrichtsreihe, nachgehen lassen wollte („Vom Einfachen zum Komplexen!“, „Vom Leichten zum Schwierigen!“, behutsame Einführung in die Sachlogik mit Hilfe des bombensicheren elementenhaft-synthetischen Verfahrens). So führen denn die Kinder ihre Versuchsreihe durch und setzen Kreuzchen in die Arbeitsblatt-Tabelle. Anschließend werden die „Arbeitsergebnisse“ veröffentlicht (Wir haben festgestellt) und mit den Vermutungen (siehe die Tabelle an der Tafel) verglichen. Die Kinder, die vorhin ja schon erfahren haben, dass ihr wirkliches Handlungsinteresse und ihre tatsächlichen Fragen diesem Unterricht nicht angemessen sind, sind als brave Schüler bis auf die in diesem Unterrichtskorsett möglichen und geforderten Minimalbewegungen erstarrt, so dass die Lehrerin ohne weitere Schwierigkeiten zu dem geplanten Unterrichtsergebnis kommen kann: Magnete ziehen Gegenstände aus Eisen an, das die Kinder noch rechtzeitig vor Stundenschluss von der Tafel ins Heft übernehmen können. Hausaufgabe: Im CVK-Arbeitsbuch die Seite über Magnete so gut anschauen, dass man beim nächsten Mal gut über sie (die Seite? die Magnete?) Bescheid weiß.

Die Leitideen des geschlossenen Unterrichts sind die Garantierung, Rationalisierung und Ökonomisierung voraussagbarer Lernprozesse. Die Optimierung solcher Prozesse stellt sich als Aufgabe und lehrtechnisches Problem des Lehrenden dar. Angenommen, ein solcher Unterricht wäre nach übereinstimmender Beurteilung aller Beteiligten und aller möglichen Beobachter hundertprozentig optimiert: Wäre damit schon festgestellt, wie vernünftig ein solcher Unterricht ist und ob er überhaupt vernünftig ist?

Narzissmus und pädagogischer Eros

Aus zwei Gründen können Erzieher auch entgegen ihrer Absicht die Entwicklung ihrer Zöglinge behindern: aus übermäßiger Verliebtheit in sich selbst oder aus Verkennung der eigenen Antriebe, die die Kinder in ihrer Entwicklung voranbringen.

Wo Eigenliebe Techniken findet, mit denen sie sich in der Umwelt widerspiegelt, kann sie sich an Feuer und Flamme erwärmen, die andere für sie sind. Auch das Schulleben lässt sich so zur Idol-Show machen.

Pädagogischer Eros aber hat andere Motive und Ziele. Pädagogie hat ausschließlich zum Zweck, sich selbst durch sich selbst mehr und mehr unumkehrbar überflüssig zu machen. [7]

Wie man kleine Kinder zum großen U verführt

"Was können die Kinder schon leisten?" Diese Frage nach der Lernausgangslage und nach der entwicklungspsychologischen Situation der Schüler ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend, wenn man den Unterricht am Kind orientieren will.

"Wie lassen sich bestimmte Gegenstände so zubereiten, portionieren und garnieren, dass die Kinder bereit sind, sie zu aufzunehmen und zu verarbeiten?" Sind solche Fragen, die auf die Dramaturgie der Unterrichtsgestaltung zielen, hinreichend, wenn es um Kindorientierung geht?

Die Lehrerin lässt den Buchstabenkasper in einer Geheimkiste einen neuen Buchstaben mitbringen: Heute ist das U dran, aber das wissen die Kinder noch nicht. Der Kasper trägt eine schaurig-spannende Geschichte vor, deren sprachliches Merkmal ein häufig ausgerufenes "Uh!" ist. Dann darf ein Kind die Kiste öffnen, und da ist er: der Lerngegenstand in Form eines aus Karton ausgeschnittenen U!

Es sind schiefe und verfälschende Auswüchse des didaktischen Prinzips der Kindorientierung, wenn der Faszination peripherer Phänomene des Unterrichts eine verselbständigte didaktische Bedeutung zugemessen wird, wenn die Frage nach der Lernmotivation schon dadurch als gelöst angesehen wird, dass der Lehrer die anstrengende Lernarbeit durch Verführungs-, Begeisterungs-, Entertainmentkünste auflockert, versüßt, garniert, schmackhaft oder unmerklich macht. [8]

Was ist "Motivation"? Manche Lehrer setzen diesen Begriff wirklich mit "Animation" gleich. Der Animator stimuliert (reizt[9]); der Stimulierte reagiert, und alle haben ihre Freude an der Beseelung. Erwartungsfroh sieht man künftigen Animationen entgegen: Eine Motivation - eine Bereitschaft, seine sensorischen, kognitiven und motorischen Funktionen auf die Erreichung eines befriedigenden Zustandes zu richten - ist entstanden. Sie bezweckt ausschließlich subjektive Bedürfnisbefriedigung; von objektiven Zwecken, von Sachlichkeit und eigenständig-persönlicher Beziehung zu Wirklichkeitsbereichen ist sie abgeschnitten. Das unterscheidet sie vom Interesse.

Wo immer man mit dem Interesse von Menschen rechnen kann, ist eine Animierung nicht nur nicht notwendig, sondern verdeckt sie möglicherweise das Interesse. Daher sollten wir Lehrer nicht so viel Energie auf die Erfindung und Anwendung verführender Tricks und suggestiven Gebarens wenden, sondern den Kindern aufs Maul und auf die Hand und in ihren Alltag schauen, um ihre jeweils sachbezogenen Interessen aufzuspüren - notfalls mit seismographischer Sensibilität.

Die Motivation der Schüler - Motivation im manipulationsfreien Sinne - soll durch zwei verlässlich sich wiederholende Grunderfahrungen gestützt oder erzeugt werden:

a) Alle empfinden es als angenehm, zusammenzusein und miteinander zu arbeiten, zu spielen, zu feiern;

b) jeder hat täglich nach Schulschluss das Gefühl, jetzt etwas zu können, was er vorher nicht oder nicht so gut konnte.

Zu a) Das oberste Prinzip ist, die erwünschten sozialen Interessen und Bedürfnisse der Kinder aufzugreifen, zu unterstützen und für den Zusammenhalt der Gesamtgruppe zu nutzen. Egozentrische Einstellungen (Vordrängeln und Abkapselung) werden nicht durch Zwang zur Ein- und Unterordnung, sondern durch Lust am Miteinander allmählich abgebaut; soziale Erziehung baut Ichstärke nicht ab, sondern erleichtert ihre Einbettung in die Gruppenprozesse.

Lehrerautorität wird von vornherein deutlich gemacht als Sachwaltung von (zunächst sehr wenigen, einfachen, prägnanten) Regeln, denen sich jeder, auch der erwachsene Lehrer, mit dem Motiv unterstellt, dass man sich zusammen mit den anderen wohlfühlen will.

Zu b) Von Anfang an sollen die Kinder erfahren können, dass Lernfortschritte um ihrer selbst willen Spaß machen. Lob hat daher nicht die Funktion, die Kinder von den Lehrerreaktionen abhängig zu machen und auf seine Belohnungen zu fixieren, sondern das eigene Vorankommen immer sicherer und unabhängiger von Fremdurteilen einschätzen zu können. Lob soll daher mit dem Tenor "Du kannst jetzt..., und darauf kannst du stolz sein, und auch ich freue mich darüber" erteilt werden. Das Lob erfolgt immer relativ zu den individuellen Lernvoraussetzungen (Entwicklungs- und Lernstand; Erfolgszuversicht / Misserfolgsängstlichkeit; ...), nie bezogen auf ein allgemeines Anspruchsniveau. Alle Kinder sollen allmählich diesen individuumsbezogenen Gerechtigkeitsbegriff verstehen und annehmen lernen. Von der Leistungsstärke einiger Kinder soll kein die anderen entmutigender Wettbewerbsdruck ausgehen. Das Kind soll genau verstehen, wofür es Anerkennung erfährt; es soll also sagen können, was es jetzt (besser) kann. Zugleich mit dem Lob kann und muss dem einzelnen Kind auch deutlich gemacht werden, womit und wie es jetzt im Lernen weitergeht (in dem Sinne, dass dem Kind die Fähigkeit zum weiteren Vorankommen in genau beschriebenen Lernaufgaben zuerkannt wird).

Zum Thema im didaktischen Sinn wird ein Sachverhalt oder -bereich erst durch das konkrete Interesse der Lernenden, durch das er Bedeutung und die Arbeit an ihm ein Ziel erhält.

Manchmal ist das Interesse nicht spontan vorhanden; man will es dann wecken.

Wie weckt man Interesse?

a) Man arrangiert ein unerhörtes, faszinierendes Erlebnis, das die Lernenden so oder so intensiv noch nicht hatten.

b) Man arrangiert ein Diskrepanz-Erlebnis, in dem eine neue und eine alte Erfahrung (oder zwei alte Erfahrungen) einander zu widersprechen scheinen: "Da kann doch was nicht stimmen!"

c) Eine Unterabteilung der Rubrik "Diskrepanz-Erlebnisse": Man arrangiert eine Handlungssituation unter Bedingungen, unter denen eine zunächst zu passen scheinende Gewohnheit oder Überzeugung (Fertigkeit oder Anschauung) nicht zum Ziele führt: "Was ist denn jetzt los, wie kommt das denn?"

Kurzreferat Piagetscher Psychologie: Im unverbildeten Menschen sind von Anfang an Antriebe zur geistigen Aneignung von erfahrener Welt (Assimilation) und zur geistigen Anpassung an erfahrene Welt (Akkommodation) wirksam. Diese Antriebe gilt es didaktisch zu nutzen. Sowohl Assimilation als auch Akkommodation sind nur im Wechselspiel von Erfahren und Denken möglich. Die intensivsten Anstöße erhält das Denken durch Erfahrungen, die nicht in die vorhandenen kognitiven Schemata (zu) passen (scheinen) oder deren Konsequenzen im Widerspruch zu eigenen Ansichten oder Strebungen stehen.

Bloß enzyklopädisch an die Kinder herangetragene Stoffe sind didaktisch bedeutungslos. Aber auch bloße Spielereien (Aktivitäten ohne gedankliches Durcharbeiten) vermitteln höchstens ansatzweise und oberflächlich zwischen Kind und Sache, aber noch nicht im Sinne einer Thematisierung.

Es ist pädagogisch unzulänglich, den Wunsch des Schülers, selbst tätig zu werden, als "Motivation" anzusehen, solange dieser Wunsch nur ein allgemeiner Antrieb ist. Didaktisch bedeutsam sind vielmehr die inhaltlich gerichteten Selbsttätigkeitsmotive, die an ein konkretes sachbezogenes Interesse geknüpft sind.

Kindgemäß kann nur unterrichten,
* wer die Kinder ernst nimmt (statt sich großmütig über ihre putzige Unentwickeltheit hinwegzusetzen),
* wer mit den Kindern arbeiten (und nicht nur mit ihnen spielen) will,
* wer die unvermittelten Handlungsinteressen und Lernmotive der Kinder aufspürt und zum Motor von zielgerichteter Lernarbeit macht (statt die Kinder durch Verzauberung für Lehrzwecke gefügig und aufnahmefähig zu machen).

Einstieg, Einstimmung, Eröffnung

Der Dieb steigt in die Wohnung ein und der Bursche durch der Sennerin Schlafgemach Fenster - diese zwielichtig-nächtlichen Einstiege sollten keinesfalls Vorbilder für unser pädagogisches Handeln sein. Also: unterrichtlicher"Einstieg"??

Jeder Linienbus hat einen Einstieg, der zur Unterscheidung vom Ausgang deutlich als solcher gekennzeichnet ist: Wir haben durch den Einstieg einzusteigen, sagt uns das Schild; und wir sehen ein:Wir müssen durch das Einstiegs-Nadelöhr am Fahrer vorbei, denn er muss die Fahrtberechtigung seiner Fahrgäste unter Kontrolle halten. Auch das ist ein zweifelhaftes, aber beliebtes Modell für unseren Unterrichtsbeginn.

Wir haben uns bei der fachlichen Vorbereitung abgerackert und sind glücklich über unsere methodischen Einfälle, aber nun sind wir um den Anfang besorgt: "Ich kann doch nicht einfach so anfangen." Also kleben wir vor die eigentliche eine künstliche Eröffnung:

"Am Sonntag war mein Neffe bei mir zu Besuch, und der hatte ein Problem; vielleicht könnt ihr ihm helfen."
"Neues aus Knusiland: Die Knusianer haben eine Methode erfunden, mit der sie auch Zahlen, die größer sind als drei, mit ihren Zeichen 0, 1, 2 und 3 aufschreiben können."

Mit diesen Noteinstiegen vergeuden wir unsere ganze didaktische Phantasie und stellen gleichwohl unserer eigenen Didaktik ein Armutszeugnis aus. Wenn nämlich der Unterrichtsgegenstand tatsächlich keine aktuelle Bedeutung im Leben und Denken unserer Schüler hat - wieso streichen wir ihn dann nicht aus unserem Arbeitsplan? Wenn er aber doch eine Bedeutung im Leben und Denken unserer Schüler haben sollte - warum phantasieren wir dann mit Fiktionen an diesem realen Bezug vorbei? Wir machen es uns mit künstlichen Einstiegen leicht, so leicht, wie es sich der Dieb in Sachen Eigentumstransfer und der Bursche in Sachen Liebeswerbung machen. Künstliche Einstiege sind die Nadelöhre, durch die wir die Schüler schleusen, damit sie ohne uns ja keinen Zugang zum Lerngegenstand finden.

Es wäre ein Hammer, wenn wir den Kindern ein Thema, das in der Hauptsache von seiner Emotionalität legitimiert ist, ohne Rücksicht auf ihre gerade vorhandene Stimmung vorsetzten. Wir müssen sie zur Ruhe kommen, Abstand von Beunruhigendem gewinnen, an Vorerfahrungen anknüpfen lassen.

Aber wenn sie bereits das Kommende erwarten oder ihre Offenheit für das Kommende feststeht, ist eine Einstimmung methodikästhetischer Firlefanz. Besser eröffnen wir unsere Unterrichtsstunde dann so:

"Guten Morgen, ihr wisst ja, wie es weitergeht; fangt jetzt an. Die Gruppe, die die Zeitungsmeldungen gesammelt hat, kommt bitte jetzt mit der Arbeitsmappe zu mir in die Konferenzecke. Die Gruppe, die den Brief an den Landrat verfasst, stellt sich darauf ein, dass sie in etwa fünfzehn Minuten einen Entwurf fertiggestellt hat und mit mir durchgehen kann."

In den anderen Fällen
* geben wir den Schülern einen kurzen Überblick über die anstehende Arbeit ("Exposition"),
* oder wir arrangieren eine Situation, die sie zum Thema hinführen kann ("Hinführung"),
* oder wir holen das bisher Gelernte zurück ("Wiederholung").
* Oder wir stimmen die Schüler ein, wenn im Thema das Emotionale Hauptsache ist ("Einstimmung").

Erst recht aber, wenn wir mit den Schülern ein Werk schaffen wollen, geht es um mehr als um Unterrichtstechniken:

"Wenn du ein Schiff bauen willst,
fang nicht an, Holz zusammenzutragen, Bretter zu schneiden und Arbeit zu verteilen,
sondern wecke in den Männern die Sehnsucht nach dem großen weiten Meer ..."
(Antoine de Saint-Exupery)

Behinderung aus fürsorglicher Sorgfalt
(Die belagerten Kinder)

Friedhelm[10]

Friedhelms Mutter nahm mich am Einschulungstag beiseite und legte mir eindringlich ans Herz, auf ihren Jungen gut achtzugeben: Ihm passiere so leicht etwas, er sei ängstlich, und eine Treppe gehe er zu Hause nur an der Hand der Mutter hinunter. Er habe erst mit drei Jahren laufen gelernt.

In der Turnhalle, die ich in unserer Doppelstunde Sport von Anfang an mit den Kindern als Abenteuerspielplatz einrichtete, saß Friedhelm am liebsten auf der Bank, wenn sie nicht gerade als Rutsche in die Sprossenwand eingehängt war. Er ließ es sich aber tapfer gefallen, von mir zum Beispiel zum Krokodilsfluss (zwischen zwei Kästen) geführt zu werden, über den seine Klassenkameraden an Lianen (den Klettertauen) schwangen. Dort spielte er dann gern "Krokodil".

Nach einem Dreivierteljahr hatten Friedhelms bester Freund und ich ihn durch geduldige Ermunterung und Hilfestellung schließlich soweit, dass er sein Gesäß nicht nur zu einem ängstlichen Achtel auf die tiefgehängte Trapezstange setzte und schon mal probehalber die Füße vom Boden hob. Am Ende des Schuljahres, als uns ein Ausflug zu einem Waldspielplatz geführt hatte, hörte ich ihn beim Schaukeln krähen: "Ich fliiiiege! Ich fliiiiege!".

Silke[11]

Silke ist ebenfalls Schulanfängerin. Ihre Eltern nehmen ihre Erziehungsaufgabe sehr ernst. Die Sorge, dass das Richtige geschehen werde, überwiegt die Freude am Geschehenen. Leben wäre ein Chaos, wenn es nicht gesteuert würde. Pädagogische Gespräche mit beiden sind von sauertöpfischer Miene und Erstaunen, Erschrecken oder Entrüstung über Unvorhergesehenes und Abweichendes gekennzeichnet. Erziehung muss etwas Einengendes sein; alles Handeln der Kinder muss unter Kontrolle und Lenkung stehen; Arbeitsergebnisse werden nicht am Aufwand und am Entwicklungsfortschritt gemessen, sondern an absoluten perfektionistischen Normen. Ein Schwimmbad muss mit dem Lineal gezeichnet werden, einen Menschen kann das Kind noch nicht zeichnen, weil es viele Erwachsene ja auch nicht können; Geschriebenes muss orthographisch fehlerfrei sein, auf Linien stehen und den höchsten Ansprüchen der Schönschrift genügen. Vom Kind kann nur erwartet werden, womit es lehrgangsmäßig befasst worden ist; das aber muss das Kind tadellos bewältigen. Vollkommenheit ist das Normale; jede kleine Unvollkommenheit ist eine nicht zu duldende Abweichung. Fehler und Nachlässigkeit dürfen sich gar nicht erst einschleichen. Welche Möglichkeiten hat Silke, sich unter der Herrschaft ihrer Eltern zu entfalten?

Silke liebt es, allein zu arbeiten, weil sie dabei schnell zu bestmöglichen Arbeitsergebnissen kommt. Erst nach und nach (ich habe sie zur Auskunftsbeamtin für Auskunft suchende Mitschüler ernannt) findet sie sich mit Situationen ab, in denen Zusammenarbeit erforderlich ist oder nahegelegt wird. Wenn wir gemeinsam etwas Gelerntes durcharbeiten, bringt sie das Unterrichtsgespräch stets mit ihren Beiträgen voran. Bei komplexeren Aufgaben und in für sie neuartigen Problemsituationen stolpert sie aber über eine etwas eingeengte Situationsauffassung. Zaghaft sucht sie stets eher nach der Anwendbarkeit eines schon erlernten Schemas als nach Entsprechungen in ihrem eigenen Erfahrungsschatz, so dass sie die nächstliegenden Lösungsansätze erst erkennt, wenn ihr zusätzliche Hinweise gegeben worden sind. Ähnlich steht sie sich mit ihrer Fehlerängstlichkeit selbst im Wege, wenn es um die Schaffung eines neuen Werks geht: beim bildnerischen Gestalten, beim Musizieren, beim Schreiben eigener Texte. Die verinnerlichte Normorientierung ist übermächtig: Ein Brief wird dadurch zum Brief, dass Linien in einer perfekten Schrift fehlerfrei beschrieben worden sind. Nur rechtschriftlich gesicherte Wörter werden verwendet. Die Arbeitsergebnisse sind formal sehr artig, inhaltlich aber oft karg. Meine Hauptaufgabe Silke gegenüber bestand vier Jahre lang darin zu versuchen, ihr Mut zum Entwurf, zum Vorläufigen, zum Überarbeitungsbedürftigen zu machen.

Ängstliche Erzieher haben kein Vertrauen in die Dynamik der kindlichen Entwicklung. [12] Despotische Erzieher lassen sich von Misstrauen in die Angemessenheit der Dynamik der kindlichen Entwicklung leiten. Wer meint, das Kind sei grundsätzlich eine tabula rasa [13] oder eine tabula primo radenda [14], komme also hinsichtlich des jeweils zu Erlernenden gerade erst zur Welt [15], wird seine Annahme grundsätzlich bestätigt sehen: Denn sein Verhalten produziert das Phänomen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Eine schlechte Glucke, die ihre Küken erdrückt und erstickt! Glücklich die Küken, die selbst nach Futter zu scharren, Gefahren zu begegnen und das Leben zu meistern und zu genießen gelernt haben, bevor die Mutter in der Küche landet! Behütende Erziehung darf nicht die Be-gegnung mit der Welt verhüten. Ein Unterricht, der grundsätzlich auf die Minimierung der Schwierigkeiten angelegt ist, verhindert, dass das Kind lernt, wie es sich mit Schwierigkeiten auseinandersetzen kann. Ein Unterricht, der dem Prinzip der kleinen und kleinsten Lernschritte folgt, hindert das Kind daran, selbst etwas zu entdecken, das frag-würdig und not-wendig ist, seine Neugier weckt und seine Kräfte herausfordert. Probleme zu lösen lerne ich, indem ich Probleme erkenne und zu lösen versuche, nicht aber indem mir jemand Regeln für anstehendes oder künftiges Problemlöseverhalten an die Hand gibt. [16]

„In mitbestimmtes Lernen muss man allmählich einführen, Schritt für Schritt für Schritt für Schritt für Schritt für Schritt“ - ?

[...] Allererste Schulstunde der Klasse 1a. Die offiziellen Feierlichkeiten der Einschulung sind zu Ende. Die Kinder, für deren Eltern in der Schulküche ein kleines Kaffeekränzchen organisiert ist, betreten das (von Eltern mit)geschmückte Klassenzimmer, das ich in den Ferien zu einer Lernwerkstatt umgestaltet habe. Ich gebe den Kindern schmucklose Faltkarten, auf die ihr Name in Blockschrift geschrieben ist und die sich ansonsten in nichts voneinander unterscheiden. Ein identischer Satz Namenkarten hängt an einer kreuz und quer durch das Zimmer gespannten Leine. Die Kinder sollen sich nicht an vorbestimmte Plätze setzen, sondern ein paar von den Sachen ausprobieren, die sie in ihrem Klassenzimmer sehen. Auf den zu Dreier- und Zweiergruppen zusammengestellten Tischen finden sie Spiel- und Lernmaterialien verschiedener Art vor. Während die einen sich erst einmal hinsetzen und abwarten, tippen andere auf den beiden Schreibmaschinen ihren Namen oder irgendeinen Buchstabensalat und fragen, ob sie ihr Erzeugnis mit nach Hause nehmen dürfen, suchen sich die Buchstaben, die in ihrem Namen vorkommen, aus dem Steckbuchstabenstempelkasten heraus und drucken sich eine eigene Namenkarte (Manuel und André drucken mit konzentrationssteigernd und steuernd herausgestreckter Zunge LEUNAM und [ERDNA][17], Christian verewigt sich als KRISIAN, und Dirk will wissen, wo das „Ü“ ist, das er noch in seinem Namen D RK unterbringen muss), spielen ein Puzzle- oder Dominospiel („Du mogelst! Da sind eins, zwei, drei, vier Punkte drauf, und bei dem mindestens zehn: eins, zwei, drei, vier, fünf, sieben, äh - jedenfalls mehr wie da!“), bauen mit Steckwürfeln einen Kran oder verschiedene Tiere, formen Plastilinfiguren, zeichnen ein Bild von der Schule, malen gezeichnete Bildvorlagen bunt aus und probieren dabei aus, mit welcher Art Stifte das Nicht-über-die-Linie-Malen am besten klappt, malen feierlich oder wild mit Farbkreide auf der Tafel, klimpern einander auf dem Metallophon etwas vor (einer kann „Alle meine Entchen“, und ein Mädchen will das am nächsten Tag auf seiner Blockflöte vorspielen), blättern in den Büchern der Klassenbücherei („Liest du uns das hier mal vor?“), vergleichen den Inhalt ihrer Schultaschen, beweisen mir, dass sie schon rechnen und ihren Namen schreiben können. Manche beschäftigen sich allein, manche schauen nur zu, die meisten tun etwas zu zweit oder zu mehreren, ein Junge und ein Mädchen hängen sich wettbewerbsmäßig an meine Fersen, um zu schmusen. Dann muss jedes Kind mithelfen, dass alle Sachen wieder an ihren Platz kommen, und man versammelt sich in der Teppichbodenecke. Wer will, kann jetzt sagen und zeigen, was er heute gemacht hat und was er am nächsten Tag ausprobieren will. Einer will seinen eigenen Stempeldruckkasten mitbringen, weil er mit ihm noch nicht so richtig klarkommt, ein anderer will auf seiner „Rechenmaschine“ zeigen, dass er schon rechnen kann, ein anderer hat zu Hause ein noch besseres Puzzlespiel und will es mitbringen, einige wollen für mich ein Bild malen, vier Kinder wollen am nächsten Tag endlich lesen lernen. Zum Schluß, nachdem man sich - teilweise mit gegenseitiger Hilfe - die Schuhe wieder angezogen und seine Namen-Faltkarte gesucht hat, wird die Leine mit den Namenkarten herabgelassen, und jeder steckt nun seine Namenkarte auf die schon vorhandene. Dabei muss man schon ganz genau sein, damit man als MARKUS nicht die Karte von MARIA zudeckt.


[7] Diese 'Eigenstruktur der Erziehung' (Blankertz) arbeiteten bereits Jean Jacques Rousseau und Immanuel Kant heraus.

[8] Man lese zu diesem Bereich das schnuckelige Scriptum "Gestaltung des Unterrichtsbeginns in der Grundschule" von Ludwig Lambrecht (pb-Verlag, Puchheim, 1983; Bestellung bei: Bayerischer Schulbuchverlag, München), Kapitel 'Der illusorische Motivationszauber - Für eine Pädagogik des Kommen-Lassens').

[9] stimulus (lat.) = Stachel, Reiz

[10] Der Name ist selbstverständlich geändert.

[11] Der Name ist selbstverständlich geändert.

[12] Alice Miller beschreibt in ihrem Buch "Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst" (Frankfurt: Suhrkamp 1979), wie Störungen der Persönlichkeit von Generation zu Generation weitergegeben werden. Menschen mit gestörtem Selbstgefühl "haben sich als Kinder zu früh und zu gründlich an die Erwartungen ihrer - selbst unsicheren, 'narzißtisch gestörten' Mütter angepasst; daher sind die narzißtischen Bedürfnisse dieser Kinder nach 'Achtung, Echo, Verständnis, Teilnahme, Spiegelung' (S. 25) unerfüllt geblieben. Diese Menschen sind heute als Erwachsene so blockiert in ihrem Gefühlsleben, weil sie es als Kind gelernt haben, Gefühle zu vermeiden, denn - so die Grundthese Alice Millers - ein Kind kann Gefühle nur erleben, »wenn eine Person da ist, die es mit diesen Gefühlen annimmt, versteht und begleitet [...]'. (S. 26) [...] Sie haben ihr Selbst aufgegeben, um das lebensnotwendige Mutter-Objekt zu erhalten." "Für das Kind, das sie einmal waren, bringen sie kein Verständnis auf: 'Nicht selten zeigen sich da Verachtung und Ironie, die bis zum Spott und Zynismus gehen können [...], eine völlige Ahnungslosigkeit in bezug auf die eigenen wahren Bedürfnisse, jenseits der Leistungszwänge'" (S. 21).- Zitiert nach Bittner, Günther: Narzißmus und 'falsches Selbst' des Kindes. Anmerkungen zu einem Buch von Alice Miller. In:Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 26, H. 1, Februar 1980, S.99-106.

[13] Früher eine glattgekratzte Platte aus Wachs, heute wohl eher aus Plastilin oder ein unbeschriebenes Blatt.

[14] Zuerst einmal müsse die unebene Wachsplatte glattgekratzt werden, auf dass das neu Einzugravierende möglichst prägnant werde.

[15] Mit Heckhausen könnte man sagen, der sachstrukturelle Entwicklungsstand sei ohne Befund.

[16] Auch und gerade das wegen kümmerlicher Praktiken großenteils zu Recht in Verruf geratene fragend-entwickelnde Verfahren kann, im wohlverstandenen sokratischen Sinne angewandt, 'die schöpferischen Kräfte des Intellekts' (Copei) herausfordern, wenn sichergestellt ist, 'dass das Problem von Anfang an jeden der Jungen' und Mädchen 'intensiv in Beschlag genommen hat, dass jeder' Schüler 'alle Schritte, auch die, welche mit einem Mißerfolge schlossen, selbst tun mußte, dass er nicht einfach einem Vormachen denkend und beobachtend folgte, sondern immer von einer Frage aus auf die nächste Beobachtung und Überlegung gestoßen wurde und dass bei allen einzelnen Untersuchungen immer das spannende Endziel vorschwebte, bis dann endlich die lösende Einsicht kam, welche zugleich die Erklärung auch für andere Erscheinungen gab.' So wird den Schülern 'in dem ganzen Verlauf keine Mühe, aber auch keine Spannung und Freude verkürzt'. Nur sofern und solange 'die regulierende Hand des Lehrers dazu nötig [ist], das Bemühen zum Ziel zu führen', soll der Lehrer eingreifen und lenken, und zwar mit dem Ziel, dass 'das sich immer mehr erübrigen' wird. Copei, Friedrich: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozeß. Quelle & Meyer, Heidelberg, (1930) 1955. S. 103 ff.

[17] Die beiden haben ihren Namen mit den richtigen Buchstaben und in der richtigen Reihenfolge, aber von rechts nach links gedruckt.  Zwei Kolleginnen meinten, Manuel und André seien legasthenisch veranlagt, und ich müsse ihre Überweisung an eine Sonderschule in Erwägung ziehen.