Aus dem 1×1 des Unterrichtsentwurfs:

Originale Begegnung

Wenn ein Schüler bei einem einsamen Spaziergang auf den Geist Adam Rieses oder auf ein pythagoreisches Zahlentripel träfe, käme niemand außerhalb der pädagogischen Welt auf den Gedanken, von einer „originalen Begegnung“ zu sprechen. Wer hier von einer „originalen Begegnung“ spricht, ist pädagogischer Insider, hat schon einmal gehört, wie jemand diesen Ausdruck verwandte und damit eine pädagogisch bedeutsame Situation bezeichnete.

Halten wir fest: „Originale Begegnung“ ist ein pädagogisch-psychologischer Terminus; seine pädagogisch-psychologische Bedeutung geht über das vordergründig-vortheoretische Verständnis hinaus. Für Pädagogen ist es daher zwingend erforderlich, den pädagogisch-psychologischen Ursprung dieses pädagogisch-psychologischen Begriffs aufzuspüren.

Als Urheber des Ausdrucks „originale Begegnung“ sind Friedrich Copei1 und Heinrich Roth hervorgetreten. Die unten nachzulesenden Exzerpte aus Roths Aufsatz „Originale Begegnung als methodisches Prinzip“2 sollen den bildungstheoretischen Tenor seiner Ausführungen dokumentieren. Roth steht wie Klafki in der Tradition der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik Diltheys, Wenigers, Nohls, Litts, Copeis und Sprangers. Da deren Veröffentlichungen wegen ihrer bedeutungsschwangeren Sprache heutzutage nur geringes Verständnis entgegenkommt, sei der Gedankengang, der für das Verständnis des Begriffs „originale Begegnung“ grundlegend ist, hier vorangestellt:

1. Erziehung und Bildung dienen nicht in erster Linie der gesellschaftsgemäßen Abrichtung bzw. der Ausstattung mit berufsweltlich relevanten Qualifikationen, sondern der Enkulturation, der Hinführung zur Teilhabe an der Kultur der Gesellschaft, in der diese Erziehung und Bildung stattfindet.

2. Weil Kultur von ihrer Weiterentwicklung lebt, bedeutet Teilhabe an der Kultur immer auch Teilhabe an der Weiterentwicklung dieser Kultur. Daher ist Enkulturation nicht nur Tradierung bereits vorhandener Kulturgüter (Inhalte der Wissenschaften, der Künste sowie der Lebensformen und der Religion), sondern immer auch Freisetzung individueller kritischer und schöpferischer Kräfte und Fähigkeiten.

3. Enkulturation ist nicht nur Sozialisation, sondern ebenso auch Personalisation. Die Beziehung zwischen den in die Kultur hineinwachsenden Individuen und den zu Bildungs- und Erziehungszwecken an sie heranzutragenden Kulturgütern liegt im Wesentlichen nicht in bloßer Rezeption; vielmehr ist diese Beziehung durch wechselseitige Erschließung gekennzeichnet: Das Kulturgut, das sich das Individuum erschließt, erschließt ein Stück weit die Persönlichkeit des Individuums (sein Weltbild sowie sein Bewusstsein, seinen Stil und seine Kompetenz im Umgang mit seinem Selbst und mit Lebenssituationen).

4. Indem der Lernende sich gründlich mit einem Kulturgut auseinandersetzt, ist dieses Kulturgut für ihn Inhalt seiner Bildung, und in diesem Bildungsinhalt begegnet ihm etwas für seine Persönlichkeit Wesentliches. Genau diese Beziehung, dieser Vorgang, in dem der Einzelne und ein Gegenstand in einer solchen Verbindung stehen, die sowohl dem individuellen Interesse, der individuellen Weise der Auseinandersetzung und den individuellen Kräften als auch der Sache gemäß ist, nennt Heinrich Roth „originale Begegnung“.

5. Genau genommen und um dem vortheoretischen Missverständnis vorzubeugen, müsste diese Beziehung „originärer geistiger Bezug“ genannt werden. Denn eine „originale Begegnung“ ist nicht schon in der sinnlichen Wahrnehmbarkeit eines Objekts gegeben:
* Das Jagdverhalten einer Löwinnengruppe kann Gegenstand „originaler Begegnung“ auch für denjenigen sein, der dieses Verhalten nicht vor Ort in der afrikanischen Steppe beobachtet, sondern dem dieses Verhalten durch ein Medium zugänglich wird.
* Die ökologischen Bedingungen, die zum Umkippen eines Gewässers führen, können Gegenstand „originaler Begegnung“ auch für denjenigen sein, der diesen Prozess nicht vor Ort untersucht, sondern dem diese Vorgänge durch ein Medium (Zeitraffer; Modellversuch) zugänglich werden.
* Die Funktionsweise des menschlichen Herzens gar kann Gegenstand „originaler Begegnung“ üblicherweise nur für denjenigen sein, dem diese Funktionsweise durch Medien zugänglich wird. Und umgekehrt: In der afrikanischen Steppe eine Löwinnengruppe jagen zu sehen, ist nicht nur keine notwendige, sondern nicht einmal eine hinreichende Voraussetzung dafür, dass von einer „originalen Begegnung“ mit dem Jagdverhalten von Löwinnen gesprochen werden kann. Wenn ich nämlich nur darauf aus bin, aus dem gepanzerten Safari-Lkw heraus eine Löwin zu erlegen, werde ich jagende Löwinnen sehen, aber nicht unbedingt auf die Jagdstrategie dieser Gruppe achten. Und selbst wenn mich die von mir angeschossene Löwin anfiele, hätte ich weder eine originale noch sonst eine Begegnung mit dem Jagdverhalten einer Löwinnengruppe. (Die hätte ich allenfalls, wenn ich selbst das Beuteobjekt einer Löwinnengruppe wäre und ich ihr auf mich abzielendes Jagdverhalten von einem Hügel aus beobachten könnte - aber was bedeutete mir dieser an sich nachhaltige Bildungsprozess dann noch?)

6. Halten wir fest: Zur „originalen Begegnung“ gehört
* ein Subjekt, das sein Interesse, sein Gefühl und/oder seine Erkenntnisbereitschaft auf ein Phänomen richtet,
* eben dieses Phänomen, das dem Subjekt zum Thema geworden ist, und
* die durch wechselseitige Erschließung gekennzeichnete Verbindung zwischen dem Subjekt und seinem Thema. Wenn die Oberflächenbeschaffenheit des Katzenfells im Unterschied zum Hundefell mein Thema ist, ist notwendige Voraussetzung für eine „originale Begegnung“, dass ich diese Beschaffenheit sinnlich, also an diese Beschaffenheit repräsentierenden realen Objekten erfahre. (Hinreichend ist diese Voraussetzung noch nicht; meine Tätigkeit muss über ein bloßes Streicheln des Katzen- und des Hundefells hinausgehen.) Ist mein Thema aber
•ein komplexer Sachverhalt (Kreislauf des Wassers),
•eine langfristige oder räumlich weit entfernte Entwicklung (ökonomische Gründe und ökologische Folgen der Abholzung großer Regenwaldgebiete),
•ein historischer Sachverhalt (Entwicklung Roms zur Weltmacht),
•ein abstrakter Sachverhalt (Multiplikation zweier algebraischer Summen; zu erwartende Probleme der Altersversorgung aufgrund der Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung) oder
•ein aus anderen Gründen nicht unmittelbar zugänglicher Vorgang, dann wird mir kaum ein reales Objekt zur Verfügung stehen, das dieses Thema repräsentiert; und dennoch wird mir eine „originale Begegnung“ (im Sinne Roths, also im Sinne eines originären geistigen Bezugs) möglich sein: vermittelt durch geeignete Mediatisierung oder Modellierung.

7. Übrigens: Die Frage, durch welche Situationen, Modelle und Medien eine Resubjektivierung eines objektiven Sachverhalts und damit dem Interesse, dem Erleben und der Erkenntnisarbeit ein originärer Zugang zu ihm möglich wird, ist eine grundlegende, für jeden Bildungsprozess neu zu stellende didaktische Frage; und die Antworten auf sie werden nach Wilhelm Dilthey, Heinrich Roth und Martin Wagenschein als didaktische Reduktion (eines bestimmten Sachverhalts in Bezug auf einen bestimmten Lernenden) bezeichnet. (Didaktische Reduktion)

Es folgen Exzerpte aus: Heinrich Roth: Originale Begegnung als methodisches Prinzip. In: Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens. Schroedel, Hannover (1957), 12. Auflage 1970. S. 109-118.

„Das erste Beginnen jeder Methodik muss [...] sein, das originale Kind, wie es von sich aus in die Welt hineinlebt, mit dem originalen Gegenstand, wie er seinem eigentlichen Wesen nach ist, so in Verbindung zu bringen, dass das Kind fragt, weil ihm der Gegenstand Fragen stellt, und der Gegenstand Fragen aufgibt, weil er eine Antwort für das Kind hat.“

„Wie bringe ich den Gegenstand in den Fragehorizont des Kindes? Wie mache ich ihn für das Kind fragenswert? Wie mache ich den Gegenstand, der als Antwort auf eine Frage zustandekam, wieder zur Frage? Und umgekehrt: Wie erhalte ich das ursprüngliche Fragen des Kindes? Wie beziehe ich dieses Fragen auf meinen Gegenstand? Wie entwickele ich daraus ein Interesse? Wie erwecke ich aus diesem Interesse einen Schaffensdrang? Wie bringe ich das Kind, das Fragen stellt, die einer Beantwortung bedürfen, zum gegenstandsgemäßen Antworten?“

„Kind und Gegenstand verhaken sich ineinander, wenn das Kind oder der Jugendliche den Gegenstand, die Aufgabe, das Kulturgut in seiner „Werdensnähe“ zu spüren bekommt, in seiner „Ursprungssituation“, aus der heraus er „Gegenstand“, „Aufgabe“, „Kulturgut“ geworden ist. Darin scheint uns das Geheimnis und Prinzip alles Methodischen zu liegen. Indem ich nämlich - und darauf kommt es allein an - den Gegenstand wieder in seinen Werdensprozess auflöse, schaffe ich ihm gegenüber wieder die ursprüngliche Situation und damit die vitale Interessiertheit, aus der er einst hervorgegangen ist.

[...] Alle methodische Kunst liegt darin beschlossen, tote Sachverhalte in lebendige Handlungen rückzuverwandeln, aus denen sie entsprungen sind: Gegenstände in Erfindungen und Entdeckungen, Werke in Schöpfungen, Pläne in Sorgen, Verträge in Beschlüsse, Lösungen in Aufgaben, Phänomene in Urphänomene.

Das schulmäßige Lernen besteht in der Aufgabe, Erkanntes, Erforschtes, Geschaffenes wieder nacherkennen, nacherforschen, nachschaffen zu lassen, und zwar durch den methodischen Kunstgriff, Erkanntes wieder in Erkennen, Erfahrungen wieder in Erfahrnis, Erforschtes wieder in Forschung, Geschaffenes wieder in Schaffen aufzulösen, nicht wie der Forscher und Schöpfer selbst, sondern wie ein wahrhaft Verstehenwollender, Nachdenkender und Nachschaffender tut.“

Die Ausführungen Heinrich Roths über die „originale Begegnung“ decken sich mit zentralen Theoremen der von Wolfgang Klafki formulierten Theorie der kategorialen Bildung und des Elementaren“3 . Nach Klafkis eigener Einschätzung wiederum hat entscheidende Bedeutung für diese seine Theorie das Buch „Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess“ von Friedrich Copei: „Aus der Analyse des sokratischen Lehrverfahrens, der sog. Mäeutik, gewinnt Copei die beiden Grundgedanken seines Buches: Erstens: Geistige Bildung geht immer aus von der Erweckung echter Fragen, von der Erregung innerer Spannungen, eines Geöffnet-Seins für einen übersubjektiven Sinn; solche ‚Fragehaltung’ wächst hervor aus der Erschütterung des bislang Selbstverständlichen oder aus dem Staunen vor einem neuen, mindestens unerwarteten Phänomen, im intellektuellen Bereich nicht weniger als im ästhetischen, ethischen oder religiösen. Zweitens: Die eigentlich bildende Wirkung einer theoretischen Einsicht, einer sittlichen Entscheidung, eines ästhetischen Erlebnisses liegt in einem eigentümlichen Erlebnis beschlossen: dem ‚Aufblitzen’ einer Einsicht, dem ‘Aufgehen’ einer ästhetischen Formeinheit, dem aus der Spannung des Sich-Entscheiden-Müssens aufspringenden sittlichen Entschluss. Diese Höhepunkte geistigen Lebens nennt Copei ‚fruchtbare Momente’.“4 „Das Elementare - als das eigentlich Bildende - kann dem jungen Menschen nicht einfach gegeben werden. [...] Aus geistiger Unruhe und Spannung heraus muss der Schüler das Elementare als Elementares selbst erfassen; er muss es selbsttätig ‚entdecken’.“5

Anmerkungen:
1: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozeß. Quelle & Meyer, Heidelberg, 3. Aufl. 1955 (1. Auflage: 1930).
2: Roth, Heinrich: Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens. Schroedel, Hannover (1957), 12. Auflage 1970. S. 109-118.
3: Klafki, Wolfgang: Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. 4. Aufl. Weinheim: Beltz (1957) 1964. S. 413.
4: Ebenda, S. 413 f.
5: Ebenda, S. 414.