Entdeckendes Mathematiklernen

Klärung des Begriffs "entdecken" und seines Umfeldes

entdecken: etwas bislang Unbekanntes finden; etwas Verborgenes, Gesuchtes finden, ausfindig machen; unvermutet bemerken, gewahren, auf etwas stoßen; offenbaren, anvertrauen
erfinden: durch Forschen und Experimentieren etwas ganz Neues hervorbringen (insbesondere auf technischem Gebiet); sich etwas Unwahres, Unwirkliches ausdenken, phantasieren
erkunden: auskundschaften, erforschen; sich Orientierung in einem Gebiet und Informationen über die Eigenschaften der Objekte und über ihre Beziehungen verschaffen

Entdeckenlassender Unterricht versus darbietender Unterricht 

Als Propagator des entdeckenlassenden Lehrens gilt seit den 60er Jahren der Kognitionspsychologe und Erziehungswissenschaftler Jerome S. Bruner. Zwischen seinen unterrichtsdidaktischen Präferenzen und denen des Unterrichtswissenschaftlers David P. Ausubel wurde in der deutschen Fachliteratur der 70er Jahre ein unversöhnlicher Gegensatz konstruiert. 
In Wahrheit unterscheiden sich Bruners und Ausubels Positionen zwar in ihren Akzentuierungen, nicht aber in ihren Grundsätzen. Das zeigt folgender Auszug aus Bruners Aufsatz "Einige Elemente des Entdeckens"[i]:
"Man kann Erziehung nicht betrachten, ohne gleichzeitig zu überlegen, wie eine Kultur eigentlich weitergegeben wird." Bruner scheint es "höchst unrealistisch, von jedem [...] erwarten zu wollen, dass er seine gesamte Kultur wieder neu entdecken sollte - dies wäre zu unwahrscheinlich. Berücksichtigt man zudem die dem Menschen eigene Abhängigkeit, dann scheint es ebenso unwahrscheinlich, dass diese lange Periode der Abhängigkeit, die ein Charakteristikum unserer Spezies ist, ausschließlich der denkbar ineffektivsten Technik zur Rückeroberung dessen, was in einem langen Zeitraum kulturell angesammelt wurde, vorbehalten sein soll - dem Entdecken. [...] Kultur [...] wird nicht entdeckt; sie wird tradiert oder gerät in Vergessenheit. All dies deutet mir darauf hin, dass wir lieber vorsichtiger sein sollten, wenn wir von der Entdeckungsmethode oder von der Vorstellung sprechen, das Entdecken sei das grundlegende Vehikel von Unterricht und Erziehung. [...] Wir sollten deshalb äußerst sorgfältig den Stellenwert möglicher Techniken reflektieren, die dazu eingesetzt werden, kompetente Erwachsene für eine Gesellschaft hervorzubringen [...]. Um diese Erwachsenen auszubilden, muss die Erziehung deshalb die Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten vorprogrammieren und ihnen [...] Modelle ihrer Umwelt an die Hand geben." [ii]
Spracherwerb als Paradigma: "Das Erlernen einer Sprache hat sehr viel zu tun mit 'erfinden' und hat wenig gemeinsam mit dem, was wir gewöhnlich mit 'entdecken' bezeichnen."[iii]
"Innerhalb einer Kultur ist folglich der früheste und für die Menschwerdung eines Individuums entscheidende Lernmechanismus nicht so sehr der des Entdeckens, sondern der des Lernens am Vorbild."[iv]
"Dennoch [...]: Es scheint im menschlichen Lernen eine notwendige Komponente zu geben, die mit dem Entdecken zusammenhängt, nämlich die Chance, eine Situation erkunden zu können."[v]
"Wie bringt man einem Kind etwas bei, welches Arrangement gilt es zu treffen, wenn man erreichen will, dass das Kind so lernt, dass es das Gelernte auch mit einiger Sicherheit in einer Vielzahl von Situationen adäquat anwenden kann?" ("Wahrscheinlichkeit des Lerntransfers".) [vi]

Sechs Teilprobleme:

1. Einstellung (attitude): Das Kind muss "sein erworbenes Wissen als Anstoß zu weiterer geistiger Bewegung" begreifen und Mut haben, seinen Verstand zu gebrauchen."Entdeckendes Lehren meint [...] nicht so sehr den Prozess, in dem man Schüler dazu bringt, zu entdecken, was 'draußen' ist, sondern heißt vielmehr, sie dahin zu bringen, zu entdecken, was in ihrem Kopf steckt."
2. Vereinbarkeit (compatibility): "Wie bringt man ein Kind dazu, neue Gegenstände so zu lernen, dass es sie in sein eigenes System von Assoziationen, Untergliederungen, Kategorien und Bezugsrahmen einordnet [...]?"
3. Erfolg (im Sinne der intrinsischen Motivation!).
4. Übung derjenigen Fertigkeiten, "die sich auf die Verwertung von Information und auf Problemlösen beziehen" (Heurismen). "Einen Gedanken in seiner ganzen Reichweite ausloten" (Ersetzung von Leerformeln durch ein Wissen um das Beziehungsnetz).
5. Rückwendung zu sich selbst (self-loop): Von der Ausführung einer Fertigkeit fortschreiten "zu einem tieferen kognitiven Verstehen"; "entdecken, was das Charakteristische des eigenen Tuns ist, und dies auf eine Weise zu entdecken, die produktiv auf dieses Tun zurückwirkt". 
6. "Fähigkeit, den Informationsfluss geschickt zu handhaben, so dass er für das Problemlösen brauchbar wird".

 

Entdeckenlassen und
- Sokratische Methode (Führungsprinzip);
- Offenheit (Begleitungsprinzip).

 

Mittel zur Unterstützung der Erkenntnisgewinnung:

Kontrast (ein Begriff bedarf der Abgrenzung).

Heinrich Winter [vii]: Didaktische Zielvorstellungen sind nicht nur auf Lerninhalte bezogen, sondern auch auf Lernweisen. "Das entdeckende Lernen ist nicht eine Methode des Lernens, die erst nach dem Aufstellen der Ziele gewählt wird (und eventuell austauschbar ist), sondern es bestimmt bereits die Ziele mit." 

Entdeckenlassen nur in bestimmten Situationen? <-> Heinrich Winter, Mathematik entdecken. Frankfurt am Main: Scriptor, 1987. S. 14. 
Winter:fundamentale Ideen zum Gegenstand des Entdeckens machen (-> Spiralprinzip). 
Winter:Fertigkeitsschulung hat im Rahmen des Konzepts des Entdeckenlassens einen "hohen kognitiven und motivationalen Rang". Warum? (-> Instrumente für das Problemlösen)


Noch höheren Rang aber misst er der Schulung der Problemlösefähigkeiten bei. Worin liegen Problemlösefähigkeiten begründet; wie zeigen sie sich; wie können sie geschult werden?
 

Festlegungen durch den Rahmenplan (didaktische Prinzipien, unterrichtspraktische Hinweise).

Problem der Umsetzung der didaktischen Prinzipien des Rahmenplans Mathematik in Anbetracht der Stofffülle eben dieses Rahmenplans.
 

Beispiele für einen Entdeckungsprozess. 



[i] In: Halbfas, Hubertus / Maurer, Friedemann / Popp, Walter (Hg.): Entwicklung der  Lernfähigkeit. S. 84-99. 1. Aufl. Stuttgart: Klett, 1972. S. 84 ff.
[ii] Ebd., S. 84 f.
[iii] Ebd., S. 85.
[iv] Ebd., S. 85.
[v] Ebd., S. 86.
[vi] Ebd., S. 86.
[vii] Mathematik entdecken. Frankfurt am Main: Scriptor, 1987. S. 15.