Gerhart Dieter Greiß
Ausbildungsleiter am Studienseminar für die Lehrämter in 34497 Korbach
Wenn wir, was ich begrüße, den Ausdruck
„didaktische Analyse“ verwenden, sollten wir uns an den
bildungstheoretischen Begriffsursprung gebunden fühlen:
Wolfgang Klafkis Aufsatz „Didaktische Analyse als Kern der
Unterrichtsvorbereitung“ von 1958, veränderte Fassung
von 1962. Nun ärgerte es Herrn Klafki aber sehr, wenn wir
sein Konzept der Didaktischen Analyse auf den Stand von 1962
einfrören, obwohl er es doch in seinen Publikationen seit den
siebziger Jahren revidiert hat. Diese Revision ist allerdings nach
seinen eigenen Aussagen noch nicht zu seiner eigener Zufriedenheit
abgeschlossen (die Verschränkung von intentional-inhaltlich
und intentional-sozial bestimmtem Lernen im Planungsmodell zu
erfassen, bereitet ihm Kopfschmerzen). Somit können wir es uns
(noch) nicht leisten, die Didaktische Analyse zum alten Eisen zu
werfen; dafür ist dieses Konzept viel zu wertvoll.
Ergänzen wir die Didaktische Analyse durch die
kritisch-konstruktiven Kerngedanken ihrer Revision:
* die Einbettung allen Unterrichts in Bildungsprozesse, die den
Grundgedanken der Selbstbestimmung und der Solidarität (deren
eine Komponente die Mitbestimmung ist) verpflichtet sind, also die
Ergänzung der anthropologisch-pädagogischen Sicht durch
eine gesellschaftstheoretische und gesellschaftskritische,
* die Priorität der Intentionen vor den Gegenständen
und
* die Herausarbeitung der dem Thema immanenten Methode als Hinweis
auf eine strukturell adäquate Auseinandersetzung der Lernenden
mit dem Thema –
dann werden wir im Sinne Klafkis handeln,
dessen Konzept wir uns ja, indem wir seinen Begriff
„didaktische Analyse“ verwenden, zueigen machen
wollen.
Ziel des didaktischen Analysierens ist es,
1. den didaktischen
Sinn (oder allgemeiner: den pädagogischen Sinn) des
Unterrichtsvorhabens zu klären: Worin liegt der Sinn des
Unterrichtsthemas für das gegenwärtige Leben der
Schüler? Worin liegt sein Wert für die Bildung und
Erziehung der Schüler?
2. den pädagogisch-pragmatischen
Ansatz des Unterrichtsvorhabens zu klären: Welche geistigen
Zugänge (bestimmt durch Interessen, Einstellungen, Kenntnisse
und andere Lernvoraussetzungen) haben die Schüler zu dem
Unterrichtsgegenstand? In welchen Situationen, Modellen, Medien
kann der Unterrichtsgegenstand den Lernenden zugänglich
werden?
Was ist beim didaktischen Analysieren zu tun?
Übersicht:
1. Pädagogische / didaktische Rahmung (curricular-systematisch
/ induktiv / deduktiv) (Anlass, übergeordnete Absichten;
Ergiebigkeit im Sinne des Exemplarischen, also der
Transferierbarkeit);
2. Klärung der Gegenwartsbedeutung des Unterrichtsgegenstands
für die Schüler;
3. Klärung der Zukunftsbedeutung des Unterrichtsgegenstands
hinsichtlich der Allgemeinbildung der Schüler;
4. didaktisch orientierte fachliche/psychologische
Erschließung der Sache insoweit, als sie
Unterrichtsgegenstand ist (sogenannte Sachanalyse);
5. mediale / situative Zugänglichkeit / Darstellbarkeit des
Unterrichtsgegenstands.
Im einzelnen:
Zunächst machen wir uns den didaktischen Rahmen
beziehungsweise den pädagogischen Anlass für die
Unterrichtseinheit klar. Dabei gehen wir aus
* curricular-systematisch von dem erreichten Lernstand und dem nun
erforderlichen und/oder möglichen Lernfortgang oder
* induktiv von einer gegebenen pädagogischen Situation
oder
* deduktiv von einer bestimmten situations- und
gegenstandsübergreifenden Intention.
Wenn unsere Planung bei einem fachlich definierten (bzw.
fachlich definierbaren) Unterrichtsgegenstand ansetzt
(„stoff“orientiert ist), empfiehlt es sich,
a) folgendes zu bedenken:
Wer bei der Unterrichtskonstruktion die Frage der Inhaltlichkeit nur sehr global und abstrakt oder nur fachwissenschaftsbezogen bedenkt und die bildungstheoretischen Fragen nach dem Pädagogisch-Elementaren außer acht lässt, dessen Unterrichtsentwürfe sind „inhaltlich meist wenig differenziert, wenig didaktisch reflektiert; sie geben [...] auch kaum Hinweise darauf, wie er eigentlich die zielorientierte Inhaltlichkeit, über die er unterrichten will bzw. über die er mit Lernenden zusammen in eine Auseinandersetzung treten will, aufschlüsseln müsste, um produktive Lernprozesse bei Schülern auslösen zu können.“
und sodann
b) geradenwegs nach der Methode zu verfahren, die
Wolfgang Klafki für die didaktische Analyse
vorschlägt:
1. „Der erste Schritt der Unterrichtsvorbereitung ist das Eindringen in die Bildungsinhalte.“ Wir fragen uns, welcher größere Sinn- oder Sachzusammenhang durch den zu thematisierenden Inhalt exemplarisch erschlossen werden kann (Ergiebigkeit / Transferbedeutung des Unterrichtsgegenstands). „Der Praktiker muss die in den Lehrplaninhalten verborgene pädagogische Vorentscheidung der Lehrplangestalter gleichsam noch einmal vollziehen. Er muss der Frage nachsinnen, welche Momente es denn gewesen sein mögen, die dazu geführt haben, einen bestimmten Inhalt oder ein bestimmtes Grundproblem in den Lehrplan aufzunehmen, d.h. sie als mögliche und in der praktischen Unterrichtsarbeit zu verlebendigende Bildungsinhalte auszuwählen.“
2. Wir fragen uns, welche Beziehung unsere Schüler zu dem
Unterrichtsinhalt bereits haben oder haben sollten
(Gegenwartsbedeutung des Unterrichtsinhalts). Welche
persönlichen Bedeutungskontexte und welche
entwicklungspsychologisch/denkpsychologisch wahrscheinlichen Stile
der kognitiven Aneignung können das Verhältnis der
Schüler zu dem ins Auge gefassten Unterrichtsgegenstand
bestimmen? Durch welche Art der Thematisierung kann ermöglicht
werden, dass die Auseinandersetzung der Schüler mit dem Thema
sich selbst möglichst weiträumig trägt? Dies ist die
Kernfrage der Schülerorientierung. In welchen wirklich
wahrgenommenen (wahrnehmbaren) Handlungsproblemen und
-möglichkeiten können die Schüler zu dem
Unterrichtsgegenstand finden, sich mit ihm auseinandersetzen und
ihn sich geistig aneignen? Das „Interesse“ der
Schüler (↗ Motivation/Motivierung) darf nicht
vordergründig nur auf das Selbsttätigsein (z. B. im
Lernspiel oder im Schülerexperiment) bezogen werden; vielmehr
muss gesehen werden, dass es sich auf die geistige
Auseinandersetzung mit dem Thema richtet, aus der die Motive
für eine - bestimmte, nämlich inhaltlich bestimmte, im
Dienste des eigenen Lösens eines bestimmten Problems stehende
- forschende Selbsttätigkeit erwachsen könnten.
(Beziehungshaltigkeit; didaktische Reduktion)
* Die Verwurzelung des in der Schule Thematisierten in der dem Kind
bedeutsamen, weil alltäglich erlebten oder erlebbaren
Welt,
* das emotional Anmutende oder gar Packende und sinnlich und/oder
spielerisch Faszinierende an ihm, das ein Sich-Hineinversenken in
scheinbar zweckfreien Wiederholungen quasi gebietet,
* die freie, spontane (didaktisch sehr wertvolle, aber nicht
didaktisch übersteuerte und verbrämte) Kommunikation
darüber mit den bereits beherrschten Mitteln der Mutter-
(Umgangs-)Sprache
* und schließlich die aus weiterführenden Anregungen
durch den Lehrer erfahrene Eröffnung neuer Erlebnis- und
Handlungsmöglichkeiten oder unter behutsam sokratischer
Denkhilfe möglich gewordenen eigenen Antworten auf eigene
Fragen kennzeichnen das pädagogische Medium, in dem die
Lernenden reiches Erfahrungswissen und grundlegende, selbst
begriffene Einsichten erwerben können. Das schulisch
arrangierte Handeln muss somit (auch) seinen Eigenwert in einem
Zusammenhang haben, den die Schüler als Ernstfall in ihrem
gegenwärtigen Leben ansehen, erleben, durchdenken, behandeln,
meistern können. „Wer nicht gelernt hat, den
gegenwärtigen Augenblick zu erfüllen, wer immer nur
darauf gerichtet wurde, für später vorzusorgen, der kann
die Zukunft nicht gewinnen. Die Vorsorge hat dann gerade nicht
vorgesorgt.“ (J. J. Rousseau) Gleichwohl liegt der Zweck der
Erziehung nicht in der Erfüllung der gegenwärtigen
Bedürfnisse, sondern in der Freilegung der bereits angelegten
eigenen Möglichkeiten des Zöglings.
3. Wir fragen uns, wie nötig der Unterrichtsinhalt für das Leben ist, in das unsere Schüler hineinwachsen sollen (Zukunftsbedeutung des Unterrichtsgegenstands unter dem Blickwinkel der Allgemeinbildung(!)).
4. Wir klären, welche Sachaspekte im Thema wie und warum miteinander verknüpft sind, das heißt: wir klären gegenstandstheoretisch und gegenstandspsychologisch die Schichtung und die Struktur des Unterrichtsgegenstands (Sachanalyse). Welche Aspekte dabei didaktisch zentral sind, ist nicht rein sachkundlich-fachlich zu klären, sondern mit Blick auf den didaktisch geklärten Sinn (Transfer-, Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung) des Unterrichtsgegenstands, insbesondere auch mit vorsorglicher Rücksicht auf festgestellte, zu erwartende oder sonst mögliche Lernschwierigkeiten.
5. Die psychologische Frage nach den Zugängen der Schüler zu dem Unterrichtsgegenstand haben wir bereits unter dem Aspekt der Gegenwartsbedeutung untersucht; nunmehr ist zu klären, mit welchen Mitteln der Unterrichtsgegenstand den Schülern zugänglich werden kann: In welchen Handlungssituationen, welchen Modellen, welchen Medien (auch: Texten und anderen Darbietungen oder Darstellungen) ist der Unterrichtsgegenstand präsent oder repräsentiert und/oder handelnd erkundbar?
Wer einen Unterrichtsgegenstand auf diese Weise didaktisch analysiert hat, hat die Unterrichtsziele geklärt, denn genau das ist der Sinn des didaktischen Analysierens. Es hindert uns aber niemand daran, die Unterrichtsziele in bündiger Fassung aufzulisten und damit die didaktische Analyse zu einem krönenden Abschluss zu bringen.
(Bildungsgehalt / ↗ Intention / ↗ Lernzielformulierung)
Und wo bleibt die Methode? Zunächst einmal ist festzuhalten: Sie bleibt außen vor. Methodische (Planungs-)Überlegungen sind ihrem Wesen nach konstruktiv, nicht analytisch. Es ist daher nicht korrekt, sie als Bestandteil didaktisch-analytischer Betrachtungen anzusehen. Didaktisch analysiert werden (bei der Unterrichtsplanung) pädagogische Situationen und die pädagogische Bedeutung von Inhalten; methodische Aspekte sind schlechterdings didaktisch nicht zu analysieren (es sei denn, die betrachtete Methode wäre selbst Unterrichtsinhalt!).
Aber genau genommen ist durch die didaktische Analyse die Unterrichtsmethode im Kern bereits vorgeprägt: Jedem Gegenstand wohnt bei didaktisch-reduktiver Sichtweise bereits das Verfahren zu seiner Erschließung inne. (Didaktische Reduktion / Thema) Pädagogisch vernünftiges methodisches Konstruieren ist auf die Befunde der didaktischen Analyse angewiesen. (Methode)
Was ist beim didaktischen Analysieren zu beachten?
Die didaktischen Absichten müssen für die unterrichteten Schüler relevant und angemessen sein.
Je komplexer eine intendierte Verhaltensänderung ist (Haltungen, Gewohnheiten), desto tiefer und spezifizierter muss der Lehrer die in ihnen implizierten oder von ihnen vorausgesetzten fachlich bestimmbaren Lernprozesse erschließen. Er muss die Beziehung zwischen den lebensnahen Handlungen und ihren fachlichen Implikationen und Voraussetzungen bedenken: Nur so kann er klären, a) worin die für lebenspraktische Situationen notwendige fachliche Kompetenz (sprich: Qualifikation) liegt und b) wie die dafür erforderliche fachliche Auseinandersetzung aus der Lebenserfahrung heraus motiviert sein kann.
In dem Maße, in dem die Unterrichtsziele auch tiefere Persönlichkeitsschichten (Einstellungen, Wertschätzungen, Haltungen) betreffen, muss der Lehrer mit individuellen Entwicklungsständen, -antrieben und -hemmungen seiner Schüler rechnen und sich einfühlsam auf sie einstellen.
Je höhere Anforderungen das Thema an die Erkenntnisarbeit der Schüler stellt, desto sorgfältiger muss der Lehrer die Voraussetzungen (Lernstände, -fähigkeiten und -stile) ermitteln, die sie für die Bewältigung dieser Anforderungen mitbringen.
Je lebensnäher die Unterrichtsarbeit sein soll, desto umsichtiger muss der Lehrer die unterschiedlichen einschlägigen lebenspraktischen Vorerfahrungen der Schüler erkunden und berücksichtigen. (↗ Differenzierung)
(Bildungsgehalt / Gliederung eines Unterrichtsentwurfs / ↗ Intention / Didaktische Reduktion / Sachanalyse / Anhang)
Die Didaktische Analyse entwickelte der frühe Wolfgang Klafki (50er bis Mitte der 60er Jahre). Didaktik ist hier Didaktik im engeren Sinne (Klafki: „Didaktik i.e.S.“); als Lehre von der Klärung der unterrichtlichen Ziel- und Inhaltsfragen ist sie der Methodik (Lösung der Vermittlungsprobleme) vorgeordnet (Satz vom Primat der Didaktik i.e.S. im Verhältnis zur Methodik).
Nun hat sich aber Klafkis Didaktiktheorie seit der Mitte der sechziger Jahre gewandelt. Als „Konkretisierungsversuche“ und „Fortbildungen [...] auf der Basis der Wenigerschen Theorie“ (Bildungs- und Lehrplantheorie) war sie für die didaktische Praxis in der Didaktischen Analyse wirksam, einer („bildungswert“-bezogenen) Analyse der lehrplanmäßig vorgegebenen Gegenstände, die erst durch eine solche Analyse zu Bildungsinhalten des konkreten Unterrichts werden können. In der Didaktischen Analyse als einem hermeneutischen Akt denkt der planende Lehrer die bildungswertbezogene Begründung für sich und mit Blick auf seine Schüler neu, die die Lehrplankommission bewogen hat, den betreffenden Gegenstand in den Lehrplan aufzunehmen.
Bei seiner Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie (insbesondere der Habermasschen) fiel Klafki auf, dass eine derartige didaktische Praxis nicht kritisch genug mit dem gesellschaftlich und politisch Gesetzten umgehe. Methodologisch konzentriert sie sich auf das Verstehen des Bestehenden und vernachlässigt ihre Aufgabe, mit konstruktiver Kritik auf die Gestaltung des Bestehenden einzuwirken; „die kritische Rückfrage auf die Bedingungen eines engagierten, d.h. an der praktisch-pädagogischen Verantwortung teilhabenden Denkens [ist] innerhalb der bisherigen Geisteswissenschaftlichen Pädagogik unzulänglich gewesen“ „Die kritische Untersuchung und Reflexion dessen, was in pädagogischen Praxisfeldern wirklich geschieht und was verändert werden kann und verändert werden müsste, ist innerhalb der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik unzulänglich geblieben. Hier bedurfte es der empirischen und der gesellschaftskritischen Wende [...].“
Außerdem nahm Klafki die Kritik Paul Heimanns (Berliner Didaktik) ernst, dass die Unterscheidung zwischen Didaktik i.e.S. als Klärung der Zielsetzungen und Inhaltsfragen und Methodik als Lösung der Vermittlungs- und Präsentationsprobleme „die Gefahr bei sich trüge, den Zusammenhang und die Interdependenz der verschiedenen Faktoren auseinanderzureißen, die Unterricht bestimmen“. Er kam (1978) zu dem Schluss: „Eine Neufassung der Didaktischen Analyse muss also den Zusammenhang zwischen Ziel- und Inhaltsproblematik und der Vermittlungs- und Medienproblematik schärfer in den Blick fassen. Insofern ist vielleicht die Bezeichnung Didaktische Analyse gar nicht mehr zutreffend. Man müsste eher von Didaktisch-methodischer Analyse und Konstruktion sprechen.“ Damit hebt Klafki die Trennung von Didaktischem und Methodischem inhaltlich auf, bleibt aber in der Bezeichnung der alten Trennung verhaftet. Entscheidend aber ist die Neuformulierung des Theorems vom Primat der Didaktik in ihrem Verhältnis zur Methodik: „Man müsste von einem Primat der Intentionalität gegenüber allen anderen Dimensionen des didaktischen Feldes sprechen, d.h. vom Primat der Intentionalität gegenüber dem Bereich der Thematik, der Methoden, der Medien und den dahinterstehenden anthropogenen und soziokulturellen Voraussetzungen [!?].“